Das Skulpturenensemble „Moislinger Gesellschaft“ von Bettina Thierig

August Rodin hatte den Wunsch, dass seine „Bürger von Calais“, die im Jahr 1889 geschaffen wurden, mitten auf dem Rathausplatz in Calais stehen sollten, in das Pflaster des Platzes ohne Sockel eingelassen, dem täglichen Leben der Bürger ausgesetzt. Wenn man heute von Kunst im öffentlichen Raum spricht, vergisst man darüber einerseits, dass es solche Kunst in öffentlichen Räumen zu allen Zeiten gegeben hat, andererseits zu unterscheiden zwischen moderner fortschrittlicher Kunst und überkommenen, obsoleten Werken, die kein gemeinschaftliches Bekenntnis zur Kultur darstellen, sondern lediglich der Machtdemonstration einer Obrigkeit dienen.

Das Skulpturenensemble „Moislinger Gesellschaft“ der Lübecker Künstlerin Bettina Thierig, deren Aufstellung am 17. Juni 2015 an der Neubauwohnanlage feierlich begangen wurde, ist keinerlei Machtdemonstration. Auch wenn die vier Figuren bei einer direkten Gegenüberstellung monumental wirken, sehen sie auf dem Dach platziert – mit der Möglichkeit, sie ausschließlich von der Straße, also aus der Froschperspektive, zu betrachten – vornehm zurückhaltend aus. Dies mag an der Leichtigkeit des Kalksteins, des französischen Savonnières, liegen. Die Figuren fügen sich einerseits in das Stadtbild ein, andererseits fallen sie nicht zuletzt …

Oliver Zybok, Direktor der Overbeck-Gesellschaft Lübeck, schreibt über die Figurengruppe „Moislinger Gesellschaft“ der Lübecker Künstlerin Bettina Thierig.

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Oliver Zybok, Direktor der Overbeck-Gesellschaft Lübeck

Drei Fragen an Bettina Thierig

 Die Moislinger Gesellschaft war eine Auftragsarbeit der Trave mbH. Was genau waren die Vorgaben?

Eine Auftragsarbeit ist selbstverständlich etwas anderes als eine freie Arbeit. Ich kann meine künstlerische Arbeit hier innerhalb eines fest gesetzten Rahmens erfüllen. Man kann das als Einschränkung empfinden, oder aber als besondere Herausforderung. Man muss sich innerhalb der von außen gesetzten Grenzen Lösungen ausdenken, die einerseits die eigenen Ansprüche, andererseits auch die gewünschten Vorgaben erfüllen. Da ich mich über das Anliegen meiner Auftraggeber, der Grundstücks-Gesellschaft TRAVE mbH, dem Stadtteil Moisling etwas Außergewöhnliches zu schenken sehr gefreut habe, hat es mir auch besondere Freude gemacht, über diese Aufgabenstellung nachzudenken.

Die Vorstellungen der Grundstücks-Gesellschaft TRAVE mbH, die ich zunächst mit Herrn Sörensen, dann mit Herrn Dr. Rasch besprochen habe waren folgende:

  • Das Figurenensemble soll auf einem Häuserdach stehen, also für den Betrachter nur aus einiger Entfernung zu sehen sein.
  • Es sollen 4 erkennbare menschliche Figuren sein
  • Alle müssen in einer Reihe, am Rand es Daches stehen, da sie sonst von unten nicht zu sehen sind.
  • Die Figuren sollen farbig sein.
  • Die Statik der Figuren soll so sein, dass sie ohne zusätzliche Stützen selbst stehen können.
  • Die Figurengruppe soll eine Art Wahrzeichen für den Moisling werden. Sie soll ein Zeichen sein für den sich verändernden Stadtteil mit seinen Besonderheiten.
  • Es soll ein Geschenk der TRAVE an den Stadtteil sein, ein Geschenk, das der Wertschätzung für diesen Stadtteil Gestalt gibt.

Und welche Lösung haben sie sich ausgedacht?

Meine Idee war, dass die Gruppe eine bestimmte Dynamik haben und sich erkennbar aufeinander beziehen soll. Ich wollte durch die Bewegungen innerhalb der Gruppe ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen im Stadtteil darstellen. Da Dynamik bei einer Gruppe mit einer geraden Zahl an Figuren nur schwer darzustellen ist, habe ich mich dazu entschieden, eine der Figuren deutlich kleiner zu machen. Da mir für die Gruppendynamik nur die seitliche Bewegung zur Verfügung stand, habe ich den Figuren seitliche Bewegungen gegeben, die sich aufeinander verweisen: Die Frauenfigur links hat einen wehenden abstrahierten Rock, der auf die Nachbarfigur zeigt. Die auseinander gestellten Beine der zweiten Figur bringen eine Diagonale in die Gruppe, der Arm der kleinen Figur ist erhoben und greift nach der männlichen Figur neben ihr, bei der letzten Figur in der Reihe ist der Oberkörper in Richtung zur Gruppe abgeknickt, während ihr Rock sich in die andere Richtung bewegt.

Die Bewegung ist dynamisch und doch ruhig, da die Statik der Figuren so ausgerichtet ist, dass sie ausbalanciert sind und ohne Stütze stehen können sollten. Die Forderung des Statikers entspricht meiner sonstigen Arbeitsweise.

Als zusätzliches Mittel, die dynamische Wirkung zu verstärken, habe ich eine nicht illustrative Bemalung gewählt. Klare kräftige Farben, in meist geometrischen Formen aufgetragen, bedecken Teile der Figuren und bilden einen kräftigen Kontrast zum hellen Kalkstein.

Die Unterschiedliche Art der Bemalung der Figuren soll auch ein Hinweis auf die sich aus unterschiedlichen Menschen zusammengesetzte Bevölkerungsstruktur des Stadtteils sein.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass man Menschen am ehesten über positive Gefühle erreichen kann. Daher versuche ich meinen Figuren eine gewisse, in sich selbst ruhende Selbstverständlichkeit und eine Heiterkeit mitzugeben. Dazu tragen die runden Formen bei und die Bewegungen, die ganz selbstverständlich und mühelos wirken. Trotz des schweren Materials machen die Figuren ihre Bewegungen mit Leichtigkeit und wirken fast unbelastet von der Schwerkraft. Auch die kräftigen, klaren Farbflächen tragen zu einem freundlichen Eindruck bei.

Wie wird die Figurengruppe denn von den Moislingern wahrgenommen?

Da müssen wir natürlich die Betrachter Fragen. Bei der feierlichen Eröffnung des Skulpturenensembles im Juni 2015 war mein Wunsch, die Bewohner des Hauses und der Nachbarschaft auf besondere Weise miteinzubeziehen.

Ich habe eine Abbildung der Figurengruppe bearbeiten lassen und davon Magneten herstellen lassen. So hatte ich für die ca. 150 Besucher der Eröffnungsfeier ein kleines Geschenk, das mit sich bringt, dass die Figuren auch in die Wohnungen mitgenommen werden und so angeeignet werden können.

Dieses kleine Geschenk wurde gerne entgegengenommen. Für mich war es eine Geste, den Bewohnern meine Wertschätzung zu zeigen.

Bei Fotoarbeiten in Moisling mit dem Fotografen Dirk Silz, der die gesamte Entstehung der Figuren dokumentiert hat, fotografierten wir die Modelle der Figuren an besonderen Stellen in Moisling.

Bei den sich daraus ergebenden Gesprächen bekamen wir den Eindruck, dass die Figurengruppe in der kurzen Zeit schon sehr bekannt in Moisling ist und dass sie sehr positiv gesehen wird-

Pastor Gauer erzählte zum Beispiel, dass bei einem Gottesdienst über Flüchtlinge ganz selbstverständlich die Figurengruppe als Bild von Integration benannt wurde.

Vielen Dank für das Gespräch

Weiterführende Links:

https://www.bettina-thierig.de/moislinger

https://sh-kunst.de/bettina-thierig-moislinger-gesellschaft/