Spokenword & Poetry Slam in Schleswig-Holstein

In den letzten Jahren ist der moderne Dichterwettstreit Poetry Slam in Deutschland immer bekannter und populärer geworden. Mit ausschlaggebend dafür war und ist ohne Frage der unglaubliche Erfolg Julia Engelmanns. Und wer im Norden kennt nicht Mona Harrys Liebeserklärung an den Norden“? Doch trotz der gewachsenen Popularität und dem immer größeren Medieninteresse sagt vielen der Begriff Poetry Slam wenig – und für manche ist es immer noch ein subkulturelles Phänomen. Dabei ist Poetry Slam viel mehr.

„Eure Wertung für Text und Vortrag bei drei, zwei, eins … jetzt!“

Poetry Slam ist gelebte Literatur, ein Live-Event, bei dem PoetInnen jeden Alters mit selbstverfassten Texten gegeneinander antreten. Die Regeln sind schnell erklärt: Jeder Kontrahent hat ein Zeitlimit, weder Kostüme noch Requisiten oder Musikinstrumente sind zugelassen. Im Mittelpunkt stehen die Texte – und die Performance der KünstlerInnen. Wer die Gunst des Publikums erobert, gewinnt den Abend. Die Wertung übernehmen dabei keine Literaturwissenschaftler, sondern schlicht und einfach das Publikum selbst. Punkt.

Und was macht den Reiz dieser Veranstaltungen aus? Ganz klar die gebotene textliche Vielfalt! An einem Abend haben die Zuschauer die Möglichkeit von komischer Prosa über kunstvollen Unfug bis zu ernster Lyrik die ganze Bandbreite an mündlicher Ausdrucksform zu genießen.

Denn Poetry Slam ist kein eigenes Genre, sondern die Plattform für viele Arten an Texten. Lediglich das Limit von sechs Minuten pro Vortrag setzt eine Grenze. Ansonsten ist auf der Bühne zwischen Kunst und Klamauk alles erlaubt. Die Kürze der Zeit und der Live-Charakter stellen besondere Anforderungen an die Texte. Prägnanz, Direktheit, Reduzierung, sorgfältiger Einsatz von Pointen und Punchlines zeichnen typische Texte beim Poetry Slam aus. Dazwischen bleibt viel Raum für virtuoses Spiel mit der Sprache, für kalauernden Klamauk, tiefe Gedanken und viel Gefühl. Die Wirkung der Texte kann dabei vollkommen unterschiedlich sein. Lustige und böse-sarkastische Texte werden am häufigsten mit Poetry Slam in Verbindung gebracht. Aber daneben lässt sich das Publikum genauso von kunstvoll formulierten, gefühlvollen und lyrischen Texten in den Bann ziehen. Bezeichnend und beeindruckend beim Poetry Slam ist der Respekt der Zuhörer den KünstlerInnen und ihren Texten gegenüber. Es ist immer wieder ein Gänsehautmoment, wenn Menschen, die eben noch zu einem urkomischen Text geschrien und gejohlt haben, in vollkommener Stille ihre ganze Konzentration einem feinsinnig formulierten, ernsten Text schenken.

Wie alles begann …

Die Geschichte der Entstehung des Poetry Slams lässt sich andernorts nachlesen. Soviel sei hier gesagt: Marc Kelly Smith lag im Chicago der 1980er Jahre goldrichtig mit seiner Idee, klassischen Spokenword-Lesungen im Stile Kerouacs & Co. mit einem Wettbewerb mit Zeitlimit neues Leben einzuhauchen und damit für das Publikum attraktiver zu machen – der Poetry Slam war geboren und trat seinen Siegeszug durch die Welt an.

In Deutschland – der mittlerweile zweitgrößten Szene nach der englischsprachigen – fanden Mitte der 90er Jahre die ersten Slams in Berlin und München statt. Nach den Anfängen im Jahr 1999 in der Schaubude in Kiel konnte sich die Idee des Poetry Slams auch in Norddeutschland immer stärker durchsetzen. Die 2002 von Björn Högsdal und damals noch Patrick Kruse gegründete Kulturagentur assemble ART brachte mit der Reihe Wortgewalten und ab 2003 mit regelmäßigen Poetry Slams noch mehr Bewegung in die junge schleswig-holsteinische Spokenword-Szene. Und Björn Högsdal wurde mit seiner hervorragenden Vernetzung zu einem Motor der Kulturlandschaft Schleswig-Holsteins und in der Poetry Slam-Welt.

Das Ergebnis ist eindrucksvoll: Mit aktuell mehr als 45 regelmäßigen Poetry Slams im Jahr in allen Regionen des Landes ist Schleswig-Holstein inzwischen zu einer festen Größe in der deutschsprachigen und internationalen Poetry Slam- und Spokenword-Szene geworden. Das Spektrum der Veranstaltungen reicht von kleinen, aber feinen Dorf-Slams mit rund 100 Gästen bis zum alljährlichen Kieler Woche-Poetry Slam mit 2.500 ZuschauerInnen. Mit Gala-Slams wie dem seit vielen Jahren sehr erfolgreichen IRON SLAM und dem Dead vs. Alive-Slam in der Carlshütte in Büdelsdorf, dem Poetry Slam op Platt mit dem NDR oder dem Festival spokenwords.sh hat der Poetry Slam längst den Bereich der Subkultur verlassen.

Das Publikum ist dabei so bunt gemischt wie die Texte der KünstlerInnen. Menschen von 17 bis 70 (und darüber hinaus) lassen sich von der Vielfalt der vorgetragenen Texte begeistern. Langweilig wird es nie. Dafür sorgt alleine schon der stetige Strom an neuen KünstlerInnen. Intensive Nachwuchsarbeit mit Workshops an Schulen, in Jugendeinrichtungen und Kirchengemeinden zahlt sich aus. Die U20-Wettbewerbe im Lande freuen sich über neue Talente, ein Mangel an schreib- und textbegeisterten jungen Menschen ist nicht erkennbar. Ganz im Gegenteil. Als 2013 erstmals die deutschsprachigen U20-Meisterschaften in Kiel ausgetragen wurden, versammelten sich mehr als 200 junge Poetinnen in der Landeshauptstadt, um die Besten des deutschsprachigen Raumes zu küren. Die Szene blüht, wächst und gedeiht. Beim Poetry Slam können raue, ungeschliffene Texte mit ihrem ganz eigenen Charme neben hochprofessionellen Vorträgen stehen – oder wie Björn Högsdal es so treffend sagt: „Beim Poetry Slam kann es zu Literatur kommen.“

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Stefan Schwarck
Autor und Poetry Slammer