Teller übersäen den Boden. Teller soweit das Auge reicht. Teller aus feiner, eierschalenfarbener Keramik. Der ganze Boden ist eingedeckt, als wäre es eine Einladung zu einer groß angelegten Mahlzeit im Freien. Doch ist es wirklich ein Picknick, zum dem die Künstlerin Lena Kaapke im Ausstellungsraum einlädt? Sind die scheinbar beliebig platzierten Teller ihrer Arbeit „Die Kunde von draussen, Erzählung einer Metamorphose“ wirklich als Geschirr gedacht? Geht es hier ums Essen? Wenn dem so ist, fehlen jedoch die Zutaten für eine Mahlzeit. Die Teller sind leer – scheinbar jedenfalls. Denn eigentlich befinden sich beim genaueren Hinsehen verschiedene Farbtöne und botanische Pflanzennamen auf den Keramiktellern. Farbtöne, die der Natur entspringen.
Die Absolventin der Kieler Muthesius-Kunsthochschule und Trägerin des Kunstpreises des Landes Schleswig-Holstein macht es dem Betrachter nicht gerade einfach. Wirft Fragen auf, deren zunächst naheliegenden Antworten jedoch auf die falsche Fährte führen. Die falsche Forscherfährte. Denn Lena Kaapke, die das Material „Keramik“ zu ihrem ästhetischen Liebling erklärt hat, sieht sich selbst nicht als Keramikerin. „Ich bin eigentlich eine ästhetisch arbeitende Wissenschaftlerin und forsche mit meinen Arbeiten an soziokulturellen Themen.“ Die Liebe zur Keramik ist dabei eher ein Produkt des Zufalls. „Ich mag das Material einfach sehr gerne.“ Deswegen stehen Installationen aus diesem geschichtsträchtigen Material, das schon im Paläolithikum, der Altsteinzeit, zur Herstellung von Kunstgegenständen genutzt wurde, im Fokus von Kaapkes künstlerischer Arbeit.
Das bedeutet aber nicht, dass nicht auch andere Materialien aus Kaapkes ästhetischem Fundus zum Einsatz kommen. Je nach Thema und Konzept spielt die junge Künstlerin mit unterschiedlichen Materialien. Will sich nur ungern festlegen lassen: „Ich habe mich in meinem Master „Freie Kunst und Keramik“ mit dem Erstellen von ästhetischen Konzepten beschäftigt.“ Dabei stand das Material „Keramik“ zwar im Vordergrund aber die Ausbildung, sagt Lena Kaapke, fokussierte vor allem darauf, eine individuelle künstlerische Ausdrucksform zu erreichen.
Seit Ende der 1970er Jahre hat sich der Begriff für raumexpandierende Inszenierungen in der Kunstwelt etablieren können. Inhaltlicher Ausgangspunkt dieser überwiegend dreidimensionalen, raumbezogenen Kunstform im Innen- und Außenraum sind konzeptuelle oder auch spirituelle Ansätze. Jegliches, beliebiges Material kann Verwendung in einer installativen Arbeit finden. Dazu zählen auch nicht greifbare Materialien wie Zeit, Licht, Klang und Bewegung im Raum.
Um Lebenserfahrungen zu reflektieren – seine komplexen Begebenheiten, Aspekte und Erscheinungen zu ermitteln – hat sich die Technik der Installation als nützliches Werkzeug erwiesen. Denn die Natur der Installation gibt dem Künstler die außergewöhnliche Möglichkeit, komplexe Sichten von Zeit, Raum, kultureller Verschiedenheit, Philosophie, Imagination und Kulturkritik unterzubringen. Aufgrund ihrer konzeptuell und inhaltlich größeren Reichweite in den öffentlichen Sektor kann installative Kunst auch jene Adressaten erreichen, die nicht über ein komplexes Fachwissen verfügen. Eine ganz und gar demokratische Kunstform also, die sich auch für Kaapkes künstlerischen Ansatz des „Forschens“ nützlich erweist. „Ich möchte möglichst viele Menschen an den Untersuchungen meiner Forschungsvorhaben teilhaben lassen; Weil ich mich einer zunächst wissenschaftlich erscheinenden Fragestellung, wie in meiner Arbeit „Kunde von draussen, eine Erzählung in Metamorphosen“ oder „54 Farben Wasser“ vornehmlich künstlerisch nähere, versuche ich Wissensbarrieren zu umgehen und ein anderes, intuitiveres Verständnis von Gesellschaft, Wissenschaft, Kultur oder Natur zu ermöglichen.“ Der jeweilige Wissensstand des Betrachters soll dabei nur beiläufig eine Rolle spielen. Dieses aufklärerische Moment in Kaapkes Schaffen ist möglicherweise auf den Verlauf ihrer künstlerischen Ausbildung zurück zu führen. Bevor sie an die Muthesius-Kunsthochschule wechselte, studierte sie zunächst Latein und Kunst auf Lehramt an der Christian Albrechts-Universität Kiel.
Anders als eine Skulptur, die nur ein Objekt ist, kann eine Installation aus mehreren Objekten oder aus gar keinem bestehen. Der die jeweilige Arbeit definierende Rahmen bietet die Auffassung, dass der Künstler ein Arrangement kreiert, das einem integrierenden, inhaltlich zusammenhaltenden und behutsam erdachten ästhetischen ganzen entspricht. Der Ausstellungsraum kann, muss aber nicht als Ausgangslage bei der Diskussion über die Werkbedeutung herangezogen werden.
Für Lena Kaapke die perfekte formale Bedingung. Denn ihre Arbeiten sind als Raum füllende Installationen zu begreifen. Diese gefüllten „Räume“ sind einfacher an anderen Orten wieder aufzubauen, weil die einzelnen Werkteile bedeutsamer zusammenhängen, als der Zusammenhang von Werkteilen und Raum ist. So nehmen manche ihrer Arbeiten, wie „Feldforschung zu Fuss“ – eine topografische Arbeit, die sie während eines Arbeitsaufenthaltes im englischen Stoke-on-Trent erstellte – direkten Bezug zu ihrem Erstellungs- und Ausstellungsort. Für diese Bodeninstallation ist Lena Kaapke kurzerhand zur Ethnologin geworden. In einem Umkreis von zehn Kilometern ist sie durch das englische Mekka der Porzellan-Manufakturen, Stoke-on-Trent, gewandert und hat gesammelt. Gesammelt und geordnet. Nach Fundorten und Formen.
Durch die Tätigkeit des Sammelns wollte sie den Ort kennenlernen und ihn sich auf eine andere Art und Weise als durch das Lesen von Reiseführern erschließen. Auf die Frage, was sie gesammelt habe, antwortet sie nur: einfach alles. „Ich habe alles gesammelt, was in meinen Augen mit der Fabrik als Ort der Produktion von Porzellanwaren zu tun hat. Dinge, die mich interessieren, die auch automatisch aufsammeln wollte.“ Und fügt hinzu: „Wenn ich darüber nachdenken musste, ob ich einen Gegenstand mitnehmen wollte oder nicht, habe ich ihn liegen lassen.“ Dadaismus lässt grüßen, denn mit dieser „automatisierten“ Sammeltechnik löst Kaapke das Versprechen der historischen Vorboten der Installation – Dadaismus und Surrealismus – ein, die eine Überwindung der Grenzziehung zwischen Kunst und Leben anstrebten.
Ihre Fundstücke ordnete Lena Kaapke im alten Fabrikraum in einem eigenen Ordnungssystem, das sich auf das Kartierungssystem unterwegs übertragen liess. So waren die Fundstücke in dem gleichen Bodenkreis in der Fabrik angeordnet, der auch ihrem Suchradius, dem Kreis auf der Karte entsprach. Die alte Fabrik bildete als topografischer Ausgangspunkt von Kaapkes Standrundgang den Mittelpunkt des zirkulären Ordnungssystems auf dem staubigen, alten Fabrikboden. Indem sie diesen mit einer Mixtur aus China Clay und Kleister grundierte, stellte sie zum einen den Bezug zur Keramik erneut her, der in der alten Fabrikhalle nur noch durch ein Vorwissen lebendig war und zum anderen schuf sie sich einen richtigen Malgrund, für ihre eigene, ganz persönliche neue Topografie des Ortes: „Durch dieses Vorgehen beschreibe, vermesse, zeichne ich den Ort Stoke-on-Trent neu und betreibe damit Topografie im wortwörtlichen Sinne.“ Denn zu topografieren bedeutet auch, einen Ort zu zeichnen, nicht nur ihn zu beschreiben oder zu schreiben. „Indem ich eine neue Topografie zeichne, zeige ich, was heute noch da ist.“ Das wiedergefundene Alte wird in diesem neuen Kaapke’schen Stadtplan zum Platzhalter für die ehemalige Bedeutung des Ortes.
Dass sich Kaapkes Selbstentwurf als künstlerisch arbeitende Wissenschaftlerin spielerisch zwischen den einzelnen Wissensgebieten bewegen kann, zeigen auch ihre chemischen, botanischen und biologischen Studien. In „54 Farben Wasser“ arbeitet Lena Kaapke nicht keramisch, sondern nutzt das Medium der Fotografie. Ausgangspunkt ihrer Forschungsarbeit war die Frage, ob die unterschiedlichen Farben des Wassers gesammelt, ja dokumentiert werden können. Zur künstlerischen Beantwortung dieser Frage entnahm Lena Kaapke verschiedene Wasserproben im Ostseegebiet der Kieler Bucht. Biologisch gesehen haben diese Proben alle den gleichen Farbwert. Kaapke jedoch interessierte der Kontrast dieser biologisch messbaren Meeresfarbe zu der visuellen menschlichen Wahrnehmung. „Wasser kann blau, grau, grünlich, gelblich, grünbläulich, gelbgrünlich oder braun wahrgenommen werden.“ Der Farbton wird dabei durch die Reflektion, das Licht, den Einfallswinkel der Sonne, die Meerestiefe, die Strömungen oder Wasserbewegungen, den Standpunkt des Betrachters in dessen Auge erst „gemischt“, erklärt die Künstlerin zu ihrer Arbeit. Genau jene visuelle Differenz, die zwar biologisch nicht beweisbar, aber dennoch für jeden Betrachter durch seine Lebenserfahrung nachvollziehbar ist, wollte Kaapke mit dieser Arbeit zeigen und die farblichen „Rezepturen“ des Wassers festhalten. Die Fotografien der jeweiligen Wasserprobe ordnete sie in einem zweidimensional aufgezogenen Raster an und erzeugte so in ästhetischer Manier einen Farbfächer, von Farben, die eigentlich – zumindest biologisch – nicht existieren.
Lena Kaapke realisiert mit ihrer Künstlerposition zwischen Ästhetik und Wissenschaft genau jene Kunsttheorie, die für das Werk des US-amerikanischen Kunstphilosophen Nelson Goodman einen zentralen Stellenwert einnimmt: Die Differenz zwischen Kunst und Wissenschaft wird hinfällig, weil es nicht mehr um den Gegensatz zwischen Gefühl und Tatsache, Empfindung und Reflexion oder Konkretheit und Abstraktheit geht. Vielmehr bieten beide Felder – die Kunst und die Wissenschaft – verschiedene (Erklärungs-) Eigenschaften an, die ein Verständnis von Welt und ihren Zusammenhängen ermöglicht. Kaapkes Arbeiten überbrücken genau jene Kluft und ermöglichen dem Betrachter, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. //
Julia Lucas