Rudolph und Gus Dirks. Comic-Pioniere aus „Schleswick-Holstein“

A basket picnic in Bugville. Ausschnitt aus einem Cartoon von Gus Dirks

Comics, oder Graphic Novels, wie man die gehobene Text-Bildliteratur seit einigen Jahren auch in Deutschland gerne bezeichnet, boomen. Dass wichtige Teile dessen, was eine narrative Bildergeschichte ausmacht von schleswig-holsteinischen Auswanderern geschaffen wurden, ist außerhalb der Comic-Szene wenig bekannt. Dabei handelt es sich um ein Kulturthema des Landes, das Jung und Alt gleichermaßen begeistern kann. Tim Eckhorst erzählt die Geschichte von Rudolph und Gus Dirks, den Comicpionieren mit Schleswig-Holsteinischen Wurzeln

Stellen Sie sich vor, Sie schlagen eine Zeitung auf und der noch heute in fast jedem Blatt übliche Comic-Strip taucht nicht irgendwo bei der Wettervorhersage auf,  sondern nimmt eine ganze Seite ein. Die knallbunten Bilder springen Ihnen förmlich entgegen. „Ach Himmel, my Fiddle!“ ruft in einem Bild ein verzweifelter Mann und paddelt in einem See seinem Instrument hinterher. Dieses ist mit einem Seil um den Hals einer Gans gebunden. Er ist – wie viele vor und nach ihm – Opfer eines Streiches der Katzenjammer Kids geworden. Sie schmunzeln und blättern um. Überall kriecht und krabbelt es munter vor sich hin. Glühwürmchen machen sich als Lampen nützlich, Raupen und Schnecken als Ersatz für Pferde und Schneeglöckchen als Hochzeitsglocken. Sie sind in Bugville, einer Insektenstadt, einem gezeichneten Mikrokosmos.

The Katzenjammer Kids und Latest News from Bugville (und ähnlich lautende Bugville-Titel) sind die Comic-Reihen der Brüder Dirks. Riesengroß sind sie ab Ende des 19. Jahrhunderts sonntags in den auflagenstärksten New Yorker Zeitungen zu finden. The Katzenjammer Kids und Latest News from Bugville (und ähnlich lautende Bugville-Titel) sind die Comic-Reihen der Brüder Dirks. Riesengroß sind sie ab Ende des 19. Jahrunderts sonntags in den auflagenstärksten New Yorker Zeitungen zu finden.

Von Heide nach Amerika

Rudolph Dirks wird am 26. Februar 1877 in Heide (Kreis Dithmarschen) geboren. Gustav – genannt Gus – kommt am 8. Januar 1881 zur Welt. Die Eltern sind Johannes Heinrich und Margaretha Dorothea Dirks (geborene Bünz aus dem etwa 30 Kilometer entfernten Marne). Johannes Heinrich Dirks ist Tischler. Mit ihren damals sieben Kindern wird das Ehepaar alle Hände voll zu tun gehabt haben. Die Familie wohnt in einem weißen Giebelhaus in der Nähe zur Mühle des Müllermeisters Blauroth in der heutigen Weddingstedter Straße (damals Kirchhofstraße). Im Gegensatz zur Mühle steht das Haus noch. Entfernte Verwandte der Familie Dirks leben immer noch in Heide und Umgebung. Und bei einigen Stand vor Jahren auch mal Besuch aus Amerika vor der Tür.

1883/1884 wandern die Dirks in die Vereinigten Staaten aus. Mit der SS »Suevia« kommt zunächst Vater Johannes Heinrich allein in New York an. In der neuen Heimat trifft er erste Vorbereitungen für den neuen Wohnsitz der Familie. Margaretha Dorothea und die Kinder folgen dem Vater etwa sieben Monate später. Mit der SS »Polaria« reisen sie von Hamburg nach New York und kommen am 25. Mai 1884 an.

Die Not muss angesichts der harten Bedingungen, die die Familie für die Auswanderung auf sich nimmt, groß gewesen sein. Die Schiffspassage erleben sie im Zwischendeck. Das Zwischendeck stellt die dritte Klasse dar und ist zumeist mit äußerst unhygienischen Verhältnissen, Enge, Dunkelheit und harten Kojen verbunden. Speziell die 1882 von Armstrong, Mitchell & Company gebaute »Polaria« stellt ausschließlich Plätze der dritten Klasse bereit.

New York ist das Ziel aller Einwanderer. Von dort verteilen sie sich über das ganze Land. Castle Garden empfängt und prüft sämtliche Immigranten. Dies ist der erste Ort, den die Dirks in Amerika sehen (die Freiheitsstatue steht erst ab 1886 vor den Toren New Yorks). Von dort zieht es sie, vermutlich per Eisenbahn, in den Mittleren Westen, genauer gesagt in die Nähe von Chicago. Dort lassen sie sich nieder und betreiben eine Farm.

Die zeichnenden Brüder

Rudolph und Gus interessieren sich schon in jungen Jahren für das Zeichnen. Beide arbeiten für das in Chicago ansässige Magazin The Cricket. Ab der ersten Ausgabe vom Sonntag, 15. Dezember 1895 veröffentlichen sie dort zahlreiche Cartoons und Karikaturen. Zu der Zeit sind es noch Magazine, die beim Publizieren von Cartoons eine Vorreiterrolle einnehmen. Es ist aber nicht ungewöhnlich, dass Zeitungen die bereits in Magazinen erschienenen Werke nachdrucken. So auch die Arbeiten des New Yorkers Richard F. Outcault, dessen Figur Yellow Kid zunächst im Magazin The Truth zu finden ist. Der Cartoon »Fourth Ward Brownies« findet sich am 9. Februar 1895 im Magazin und wird nur wenige Tage später in der Tageszeitung New York World nachgedruckt. Dort wird die bei den Lesern äußerst beliebte Reihe in den folgenden Monaten in Farbe fortgesetzt. Formal entwickelt sich daraus der erste Comic mit Texten, die direkt ins Bild integriert sind.

Bedenkt man also diese Entwicklung, dies ich in New York vollzieht, stellt sich die Frage, wer oder was den Dirks zuvor als Inspiration gedient haben könnte. Überliefert ist durch ein Interview mit Rudolph Dirks, dass Vater Johannes Heinrich ihm (und sicherlich auch den anderen Kindern) Wilhelm Buschs Arbeiten in den Münchener Bilderbogen gezeigt hat. Zudem sollen die Eltern über eine Max und Moritz-Ausgabe verfügt haben. In jedem Fall sind die Dirks also bereits in Deutschland mit gezeichneten Bildgeschichten in Kontakt gekommen. Und in den Münchener Bilderbogen werden sie nicht nur die Werke von Wilhelm Busch gesehen haben. Auf Grund ihres Alters, müssen die Dirks auch in den folgenden Jahren ihres Aufwachsens in den Vereinigten Staaten Zugang zu Bildergeschichten aus Deutschland gehabt haben.

Auf nach New York

New York ist DIE Stadt für Zeichner. Rudolph beschließt 1896 das Haus der Eltern zu verlassen und sein Glück in der Zeitungsmetropole zu versuchen. Einige Zeit schlägt er sich in ärmlichen Verhältnissen lebend durch, findet jedoch immer wieder Jobs als Illustrator. Sein Kontakt zur Zeitung sichert ihm bald seinen Lebensunterhalt. Der Verleger William Randolph Hearst besitzt u.a. das New York Journal. Ihm ist es selbstverständlich nicht entgangen, dass sein Konkurrent Joseph Pulitzer von der New York World erfolgreich Bildergeschichten veröffentlicht und damit Leser an sein Blatt bindet. Hearst muss etwas unternehmen und trägt somit seinem Redakteur Rudolph Block auf, etwas Ähnliches wie Max und Moritz kreieren zu lassen. Block gibt Rudolph Dirks den Auftrag, da er als deutscher Auswanderer mit Max und Moritz vertraut ist. Rudolph entwirft einige Figuren und der begeisterte Rudolph Block tauft diese schließlich The Katzenjammer Kids. Ab Dezember 1897 erscheinen die Kids und begeistern sofort eine große Leserschaft. Der unübersehbare Einfluss von Wilhelm Busch und das Kauderwelsch aus Deutsch und Englisch, das die Figuren sprechen, trägt dazu bei, dass auch deutsche Einwanderer, die noch nicht so gut Englisch sprechen, zu Zeitungslesern werden.

Gus wird – inspiriert von den schnellen Erfolgen des Bruders – den Wunsch entwickelt haben, ebenfalls in New York als Zeichner zu arbeiten. So macht er sich wenige Monate nach Rudolph – im Alter von 18 Jahren – auf den Weg. In New York hat er es zunächst alles andere als leicht. Gus gelingt es nicht Fuß zu fassen, nagt am Hungertuch, wird immer dünner, kann sich weder Friseur noch Kleidung leisten und ist kurz davor aufzugeben und zu seinen Eltern zurückzukehren. Schließlich gelingt es ihm doch noch, eine eigene Comicreihe in Zeitungen und Magazinen zu platzieren. Seine Geschichten von Insekten aus Bugville schlagen bei den Lesern ein wie eine Bombe. Verfolgt man Gus’ Veröffentlichungen zurück, ist schwer zu sagen, wo die Insekten erstmals auftauchen. Im Herbst 1898 arbeitet er als Aushilfe für The Katzenjammer Kids für William R. Hearst. Es ist jedoch auch belegt, dass spätestens im April 1900 mindestens eine farbige Sonntagsseite von ihm beim Konkurrenten Joseph Pulitzer erscheint und spätestens im September 1900 ist Gus wieder mit Cartoons im Hearst-Blatt zusehen. Ebenfalls nachweisbar ist, dass Gus im Dezember 1900 bei Pulitzer erscheint. Obwohl Pulitzer und Hearst erbittert konkurrieren, gelingt es Gus offenbar, seine Arbeiten an beide Verleger zu verkaufen. Diese Tatsache ist höchst erstaunlich und hinzu kommt, dass er auch im Satiremagazin Judge und im Unterhaltungsmagazin Life seine Arbeite unterbringt.

Gus Dirks: Depressiver Popstar

In Judge werden seine Cartoons teils in schwarz-weiß und teils in knallbunten Farben abgebildet. Ob die Arbeiten eines Zeichners in Farbe oder nur in schwarz-weiß erscheinen, entscheidet die Gunst der Leser. Wer beliebt ist, dem wird etwas Raum auf den wenigen Farbseiten zugestanden. Gus Dirks steigt also in kürzester Zeit zu einem der beliebtesten Zeichner des Magazins auf. Seine Werke sind weit verbreitet. Life und Judge erscheinen landesweit und auch Pulitzer und Hearst haben in anderen Städten Zeitungen. Gus ist dementsprechend im ganzen Land berühmt ist und verdient außerordentlich gut. Bereits 1901 ist er in der Lage die Farm in Wisconsin, auf der seine Eltern mittlerweile leben, zu kaufen. Comicstripzeichner im New York des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sind gefeierte „Popstars“. Auch Rudolph lässt es sich gut gehen. In späteren Jahren besitzt er ein Sommerhaus im Küstenort Ogunquit. Dort ist er Teil einer Künstlerkolonie. Er malt, angelt, spielt Golf, veranstaltet Dinnerpartys und zeichnet einmal wöchentlich für die Zeitung „seine“ Katzenjammer Kids. Seine Heimatverbundenheit zu Schleswig-Holstein bleibt jedoch bestehen. In New York pflegt er auf dem Markt stets Kieler Sprotten zu kaufen.

Am Abend des 10. Juni 1902 begeht Gus im Alter von 21 Jahren Selbstmord. Schon einige Zeit ist sein gesundheitlicher Zustand nicht gut. Er ist bedrückt und niedergeschlagen, leidet unter Depressionen. Über die Ursache für die Depressionen wird gestritten. Die landesweit erschienenen Nachrufe geben sowohl chronische körperliche Probleme an, die durch seine Unterernährung in seinen ersten Wochen in New York hervorgerufen wurden, als auch Überarbeitung. Im Studio, das er sich mit anderen Zeichnern teilt, findet Gus einen Revolver. Mit diesem begibt er sich zu einem Spiegel und schießt sich in den Kopf. Seine schockierten Studiokollegen rufen einen Arzt, der nichts mehr für den Zeichner tun kann, außer den Bestatter zu rufen. Rudolph Dirks trifft sofort erste Vorbereitungen für den Transport der Leiche. Mit den Aufgaben für die bevorstehende Beerdigung betraut er einen Freund, um selbst mit dem Zug zu seinen Eltern fahren zu können. Dort überbringt er die Nachricht vom Tod des Bruders und Sohnes.

Rudolph ist ein langes Leben beschert. Am Samstag, 20. April 1968 stirbt er im Alter von 91 Jahren zu Hause in der 257 West 86th Street in New York. Er hinterlässt seine Frau sowie seine beiden Kinder Barbara und John. Der Zeichner soll mit einem Cocktailglas in der Hand und den letzten Worten „Ich möchte eine Kirsche“ gestorben sein.

Pionierarbeit der Brüder

Worin liegt nun das Vermächtnis der Dirks? Zunächst einmal ganz simpel in der ältesten noch erscheinenden Comicreihe. Die Katzenjammer Kids erscheinen noch heute und werden vom Zeichner Hy Eisman umgesetzt. Formal gesehen, besteht eine der Leistungen Rudolph Dirks‘ darin, dass Posen und Gesichtsausdrücke in seinen Arbeiten wesentlich dramatischer und expressiver als noch bei Wilhelm Busch sind. Er erreicht Ausdrücke, die in ihrer Erscheinung gänzlich unrealistisch bleiben. Bekommen die Kids mal wieder zur Strafe für ihre Streiche eine Tracht Prügel, sind die Münder vor Schmerz so weit aufgerissen, dass sie ein großes schwarzes Loch ergeben, das in dem Moment den größten Teil des Gesichts ausmacht. Zwar werden Tränen vergossen, dennoch scheinen Körper in der Welt der Kids unendlich belastbar – ein typisches Merkmal von Cartoonfiguren. Erhalten die Katzenjammer Kids – namentlich übrigens Hans und Fritz – einen Tritt in den Hintern, liegen sie in hohem Bogen durch die Luft, und als ein Krebs Fritz zwickt, kommt es aus dem Nichts heraus zu einer 90-Grad-Drehung des Körpers. Durch Tropfen als Zeichen für Erstaunen oder Anstrengung, Bewegungslinien („Speedlines“), lautmalende Worte (z.B. „Ouch!“, „Click!“) und Sterne als Symbol für Schmerzen, werden Szenen in ihrer Dramatik deutlich verstärkt. Rudolph Dirks hat mit seinen Erfindungen nicht mehr und nicht weniger als die Grammatik des Comics erschaffen!

Gus ist aufgrund seiner relativ kurzen Schaffensphase nahezu vergessen. Seine Arbeiten gilt es wiederzuentdecken und neu aufzulegen. Sein Werk ist seit über 100 Jahren nicht wieder veröffentlicht worden. Eine deutsche Veröffentlichung hat es nie gegeben.

Weltweiter Erfolg

Eine (dauerhafte) Ausstellung wäre wünschenswert und ist natürlich immer wieder im Gespräch. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang der Dirks-Nachlass, welcher dank einer Projektgruppe der Hochschule für Bildende Künste (HBK) in Braunschweig ihren Weg nach Deutschland gefunden hat. Rudolphs Sohn John hat Anfang der 2000er Jahre eine Sammlung der Stadt Heide vermacht. Diese ist bisher nicht öffentlich zugänglich.

Leicht wird der Stellenwert von Rudolph Dirks in Deutschland unterschätzt, da seine Arbeiten hier nie in größerem Umfang erschienen sind. Zu oft wird er in die Reihe von Busch-Nachahmern gestellt. Dabei wird vergessen, welche entscheidenden Erfindungen Dirks gemacht hat und dass er – abgesehen von den Kids selbst – sehr individuelle, eigene Figuren geschaffen hat. Namentlich sind dies die Mutter der Kids – schlicht Mamma Katzenjammer genannt – sowie Der Captain, ein Schiffbrüchiger, der die Vaterrolle übernimmt.

In Skandinavien erfreuen sich die Figuren Rudolph Dirks’ übrigens seit jeher großer Beliebtheit. Dänemark ist das erste Land Europas, in dem Dirks’ Geschichten erscheinen. 1908 taucht in dem Wochenblatt Hjemmet ein erster Strip unter dem Titel Knold og Tot auf.1911 startet eine Heftreihe, von der bis heute jährlich eine Ausgabe erscheint.

Tim Eckhorst

Der Artikel erschien in der Ausgabe 2/2016.

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