Wendepunkte in der Geschichte Schleswig-Holsteins

Die Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte hatte die an Geschichte interessierten Menschen für den 9. Juni 2018 zum 2. Tag der Schleswig-Holsteinischen Geschichte in die Sparkassenakademie nach Kiel-Mettenhof eingeladen. Die Gesellschaft hatte geladen, und die Menschen strömten in Scharen; in der Summe ein Tag, der deutlich machte, wie groß das Interesse an der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit im Land zwischen den Meeren nach wie vor ist. Nachdem sich die Gesellschaft zwei Jahre zuvor auf dem 1. Tag der Schleswig-Holsteinischen Geschichte in Rendsburg den für das Geschichtsverständnis so zentralen historischen Mythen zugewandt hatte, beschäftigte sich die Veranstaltung dieses Mal mit der Frage nach Wendepunkten in der Geschichte des Landes.

Wendepunkte in der Geschichte Schleswig-Holsteins

Beschreibung und Deutung vergangener Wirklichkeiten

Der gemeinhin zur Beschreibung von Vorgängen im Bereich der Naturwissenschaften benutzte, letztlich der Mathematik entlehnte Begriff „Wendepunkt“ wird auch von Historikerinnen und Historikern vielfach verwendet – das jedoch meist eher intuitiv und mehr oder weniger unreflektiert. Auf dem 2. Tag der Schleswig-Holsteinischen Geschichte sollte es nun darum gehen, den Begriff an regionalen Beispielen aus dem Land zwischen den Meeren aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und kritisch zu hinterfragen, um in diesem Sinne sein Potential für die Beschreibung und für die Erklärung historischer Vorgänge auszuloten. Über das jeweilige Fallbeispiel hinaus wurde den über den Tag verteilten Vorträgen damit eine Leitfrage unterlegt und der Gegenstand auf eine sehr viel allgemeinere Ebene der Problematisierung gehoben. Dadurch unterstrich die Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte nicht zuletzt ihren Anspruch, an der Schnittstelle von theoretischer Durchdringung und publikumswirksamer Vermittlung von Gegenständen der Landes- und Regionalgeschichte Impulse zu setzen und damit auch über die Landesgrenzen hinaus wegweisende Themen der allgemeinen Geschichte anzupacken.

Wendepunkte? – Ausleuchtung eines Begriffsfeldes im Spannungsfeld von Geschichtswissenschaft und Mathematik

Wer ein entsprechend ambitioniertes Ziel verfolgt, ist gut beraten, sich zunächst einmal seines Gegenstandes zu vergewissern und zu klären, was im vorliegenden Zusammenhang unter dem Begriff „Wendepunkt“ verstanden werden soll. Im Bereich der Beschreibung vergangener Wirklichkeiten ist der historische Wendepunkt ein Element des metaphorischen Sprachgebrauchs zur Verständigung über den Verlauf der Geschichte. Unter einem solchen Wendepunkt sei im vorliegenden Zusammenhang ein Zeitpunkt in der Geschichte verstanden, an dem eine grundlegende Änderung eintritt, ein Moment, von dem aus betrachtet sich die Dinge in Bezug auf bestimmte Parameter hinterher gänzlich anders verhalten als vorher. Ob sich Geschichte an solchen Punkten „beschleunigt“, „zuspitzt“ oder „verdichtet“, wie man bisweilen – ebenfalls metaphorisch verbrämt – liest, sei dahingestellt. Sprache lebt von Metaphern: Sie begrenzt unser Denken und eröffnet ihm gleichzeitig immer wieder neue Perspektiven. Ob entsprechende Metaphern am Ende den Kern dessen zum Ausdruck bringen, was durch einen Text vermittelt werden soll, hängt davon ab, ob sie vom Lesepublikum oder Auditorium im intendierten Sinne aufgelöst und verstanden werden. Auf einer übergeordneten Ebene hat es damit zu tun, wie sich die von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verwendete Fachsprache in den allgemeinen Sprachgebrauch einpasst. Der Begriff „Wendepunkt“ und synonym verwendete Begrifflichkeiten wie „Epochenwende“ oder „grundlegende Weichenstellung“ stellen von daher betrachtet, keine wirklichen Herausforderungen für die in einer gehobenen Alltagssprache verhafteten Rezipientinnen und Rezipienten dar. So scheint es zumindest auf den ersten Blick. Bei genauerem Hinsehen, gestaltet sich die Sache indes komplizierter.

Es liegt auf der Hand, dass die Frage nach Wendepunkten im Bereich der Geschichtswissenschaft in ein übergeordnetes Problemfeld eingebunden ist. So beschäftigen sich Historikerinnen und Historiker bereits seit längerem mit der Frage, ob historische Entwicklungen, das heißt Veränderungen in Raum und Zeit, eher durch kontinuierlichen Wandel und durch die längerfristige Überformung von Strukturen bestimmt oder durch einzelne, gleichsam punktuell gedachte Ereignisse geprägt sind. Dem entspricht – auf die Ebene der Akteure projiziert – die Unterscheidung zwischen Gruppen und Individuen und ihrem jeweiligen Einfluss auf den Gang der Entwicklung. Dass es ausschließlich oder auch nur in erster Linie die sprichwörtlichen „großen Männer“ waren, die in enger Tuchfühlung mit dem Weltgeist die Geschichte vorantrieben und ihr ihren Stempel aufprägten, wird heute kaum mehr jemand ernsthaft behaupten wollen. Gleichwohl wird man auch gewisse subjektive Elemente und Handlungsspielräume im Mit- und Gegeneinander von historischen Akteuren beiderlei Geschlechts keinesfalls unterschätzen dürfen. Wie so oft hängt hier wie dort vieles von dem konkreten Gegenstand ab, den man einer entsprechenden Untersuchung zu Grunde legt, außerdem von der Perspektive der Betrachtung, von den untersuchten Parametern sowie von Standpunkt und Erkenntnisinteresse des bzw. der Betrachtenden.

Immerhin lässt sich festhalten, dass Historikerinnen und Historiker es gewohnt sind, zwischen Ereignissen, Strukturen und Entwicklungen bzw. Vorgängen zu unterscheiden und aus der kritischen Beschäftigung mit diesen Kategorien auf der Basis der aus der Vergangenheit auf uns gekommenen Quellenüberlieferung Rekonstruktionen der vergangenen Wirklichkeit vorzunehmen. Ungeachtet aller theoretischen Bemühungen und der gedanklichen Schärfe, die entsprechenden Rekonstruktionen zu Grunde liegen, entbehren diese nicht gewisser Unschärfen und Interpretationsspielräume. So ist es im Spannungsfeld von Kontinuität und Umbruch etwa oftmals alles andere als trivial, sauber zwischen evolutionären und revolutionären Vorgängen zu unterscheiden. Auch lässt sich bisweilen kaum sicher ausmachen, wo hier genau eine Entwicklung abbricht, eine neue einsetzt und von einer dritten überlagert wird.

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Prof. Dr. Detlev Kraack
Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte