Herbstflora im Spiegel von Mythologie und Volksglaube

Reife und Verfall. Dazwischen nicht ein Augenblick. Unmerklich wandelt Sommer sich zum Herbst. Bereits der astronomische und kalendarische Sommeranfang trägt die Signatur der Vergänglichkeit. Denn nach Johanni werden die Tage wieder kürzer. Das Sonnenjahr neigt sich jenseits der Sommersonnenwende unaufhaltsam seinem düsteren Tiefpunkt zu. Im Herbst ist diese Entwicklung offenkundig geworden. Die Natur bereitet sich nun auf ihren Winterschlaf vor, aus dem sie erst im kommenden Frühling verjüngt erwachen wird. Zurück in die Unterwelt zieht es die Vegetationskraft. Gleich der sommers blumenbekränzten Persephone, die die kalte Jahreszeit bei ihrem Gemahl Hades verbringt, halten die Lebensgeister der Pflanzen Einkehr im frostgeschützten Boden. In Wurzeln, Knollen und Zwiebeln. An der Oberfläche buntes Farbenspiel, Tanz des Herbstlaubs und Zeit des großen Loslassens. Erneut bricht sich der Kampf zwischen Sommer und Winter Bahn.

Die schräg einfallenden Sonnenstrahlen des Frühherbstes erwärmen im Oktober noch Feld, Wald und Flur. Alles ist in goldenes Licht gehüllt. Herbstliches Land erstrahlt in allen Farben. In der Zeit ihres Niedergangs erlangt die Natur einen Zustand höchster Erhabenheit. Doch nichts auf dieser Welt ist von Dauer. Bald schon rasen die Stürme und schweren Wetter des Novembers, fegen welkes Laub vom Geäst auf regennasse Straßen und in den durchweichten Morast abseits der Fahrbahn. Ein letztes wildes Aufbäumen der Lebensgeister vor ihrem winterlichen Tiefschlaf.

Klamme Kälte macht sich zwischen kahlen Bäumen und brach liegenden Fluren breit. Finstere Ruhe nach dem Sturm. Weh’ dem, der jetzt noch keine Heimat hat, kein Zuhause, keine Höhle mit Vorräten für den hereinbrechenden Winter. Keine feste Biberburg, in die er sich verkriechen und nachsinnen kann. Über Vergangenes und Kommendes. Doch ist der Herbst nicht allein Einkehr, Schlaf und Traum des nahenden Frühlingserwachens, sondern an seinem Anfang vor allem geschäftige Zeit der Ernte.

In jenen Tagen, in denen man in Mittel- und Nordeuropa nur Sommer und Winter kannte, bezeichnete der Herbst jene Übergangszeit, in der die Früchte reif sind und geerntet werden können. In der Wortverwandtschaft mit dem englischen Begriff harvest (Ernte) findet sich ein Widerhall dieser alten Bedeutung. Der Römer Publius Cornelius Tacitus schreibt im ersten nachchristlichen Jahrhundert, dass die Völker nördlich der Alpen keinen Namen für die Jahreszeit Herbst hätten: „Autumni perinde nomen ac bona ignorantur.“ Astronomisch ist der heute festgelegte Herbstanfang identisch mit dem Sekundaräquinoktium, der Tagundnachtgleiche um den dreiundzwanzigsten September. Wie auch der Beginn der übrigen drei Jahreszeiten, wird der Anfang der Jahreszeit Herbst allerdings von Region zu Region von den Menschen unterschiedlich definiert und hängt eng mit den jeweiligen klimatischen Verhältnissen vor Ort zusammen.

An den Nordausläufern eines Gebirgszuges schlägt das Wetter im Spätsommer bekanntlich früher um, als dies in geschützten und sonnenzugewandten Lagen der Fall ist. Mitunter setzte man den Herbstanfang bereits auf Laurentius am zehnten August, andernorts galt der Bartholomäustag am vierundzwanzigsten August oder Maria Geburt am achten September als Beginn dieser Jahreszeit. Herbstmonate sind nach heutigem Verständnis September, Oktober und November. Dieser Zeitraum umfasst auch die meteorologische Definition der Jahreszeit, die astronomisch mit der Wintersonnenwende allerdings erst um den einundzwanzigsten Dezember endet.

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Dr. Welf-Gerrit Otto

Bild: Dr. Welf-Gerrit Otto