Winterflora im Spiegel von Mythologie und Volksglaube


Windzeit, Wolfszeit: Keimzeit? Winter deckt sein dunkles Tuch über schläfrige Lande. Alles ruht. Leise rieselt Raureif von dürrem Geäst. Auf klammem Holz rasten zeternde Krähen. Schrillen Schreies schrecken die schwarzen Vögel kauerndes Wild im Dickicht auf. Kahl die ehemals dicht belaubten Zweige. Schier ungeeignet, schützende Deckung zu sein. Kaum bieten sie Schutz und Obdach gegen die Unbill der Jahreszeit. Schütter wogt geknicktes Rohr im brausenden Nordwest.

Jetzt, da das kalte grindige Land im schräg einfallenden Licht eines kurzen Wintertages fahl schimmert und die von überfrierender Nässe triefenden Pflanzen welk und matt darniederliegen, wirkt alles leer und leblos. Doch weit gefehlt. Gilt der Herbst als Jahreszeit der Vergänglichkeit, so ist im kalten und finsteren Winter der Same für künftiges Wachstum bereits gelegt. Und das ist der Sonne zu verdanken.

Astronomisch beginnt der Winter mit der Wintersonnenwende um den einundzwanzigsten Dezember. Das stetige Dunklerwerden hat in dieser finstersten aller Nächte ein Ende, denn die Sonne und damit das Leben wird gleichsam wiedergeboren – „Es ist ein Ros entsprungen […] mitten im kaltem winter / wol zu der halben nacht“, wie es im Weihnachtslied heißt. Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Ewiger Kreislauf von Werden, Wachsen, Vergehen und Wiederentstehen. Der Winter ist definitiv die Zeit des Wiederentstehens, da astronomisch und kalendarisch eng verbunden mit dem wiederkehrenden Licht nach Sonnenwend. Auch wenn die Sonneneinstrahlung anfänglich nur zögerlich an Dauer und Intensität zunimmt, so ist die stärker werdende Wintersonne doch bereits der Bote des herannahenden Frühlings, der in gar nicht allzu ferner Zukunft das Land aus seinem Winterschlaf wachküssen wird.

In der kalten Jahreszeit hat sich die Vegetationskraft tief in den Erdboden zurückgezogen. Mythologisch ausgedrückt nächtigt die sommers blumenbekränzte Persephone im Winter abgeschminkt und entblättert bei Hades in der Unterwelt. Dies hat den für unser Thema nicht unbedeutenden Sachverhalt zur Folge, dass die Pflanzenteile unter der Erde, sofern essbar, sich winters durch besonderen Wohlgeschmack auszeichnen: „Es ist ein Ros entsprungen / auß einer wurtzel zart.“ Die kalten Wintermonate sind daher die beste Erntezeit für wildes Wurzelgemüse, das jetzt zart und aromatisch mundet. Lenkte die Pflanze Saft und Kraft während der warmen Jahreszeit in oberirdisches Wachstum, Blattwerk, Blüten und Früchte, ruht die Lebensenergie im Winter unter der Erde.

Sommers schmecken Wurzeln, Rhizome und Knollen essbarer Wildpflanzen nicht selten fade, zäh und ledrig. Beim Sammeln von Wildgemüsen sollte man daher grundsätzlich immer jenen Teil der Pflanze ernten, der zum jeweiligen Zeitpunkt von der Wuchskraft besonders durchflutet wird. Im Frühjahr sind dies die jungen Triebe, Blüten und Blätter, im Sommer und Herbst die Früchte und im Winter eben alles, was sich unter der Erde befindet. Darüber hinaus wächst auch zu dieser Zeit oberirdisch noch einiges, was nicht verschmäht werden sollte. Unseren Vorfahren sicherten Blätter, Früchte und Wurzeln essbarer Wildpflanzen, die winters draußen noch zu finden waren, neben Lebensmitteln aus Vorratshaltung das Überleben insbesondere in Krisenzeiten.

Winterzeit: Ende als Anfang gedacht. Denn der kürzeste Tag und die längste Nacht bilden den energetischen Tiefpunkt des Sonnenjahres. Von nun an kann es nur noch aufwärts gehen. Offener Raum für die Empfängnis des Neuen. Doch bevor das Rad ewiger Wiederkehr eine neue Runde beschreitet, kommt es zu einem kurzen Zögern, einem apokryphen Stocken und Knacken im kulturellen Getriebe des Kalendariums. Die Finsternisse der Rauhnächte zwischen den Jahren brechen in die fest gefügte Menschenwelt herein, die sich mittels verschiedener apotropäischer Vorkehrungen gegen das Unheimliche zu schützen versucht. Als Rauhnächte werden die Tage und Nächte zwischen den Jahren im Volksmund bezeichnet. Astronomisch betrachtet handelt es sich dabei um die zeitliche Kluft zwischen Mondjahr und Sonnenjahr. Die Differenz wird je nach Region als Rauh-, Rauch- oder Glöckelnächte bezeichnet.

Im Volksglauben versteht man darunter zu-meist den Zeitraum von Weihnachten bis zur Erscheinung des Herrn am Tag der Heiligen Drei Könige. Diese Tage, oder besser Nächte – denn hell ist es während jener Zeitspanne täglich nur für wenige Stunden – sind geradezu überfrachtet von mannigfaltigem Brauchtum. Die Rituale, Ge- und Verbote tragen allesamt das Versprechen in sich, Schutz zu bieten gegen die hereinbrechen-den Mächte des Ungeordneten aus dem interstellaren Raum außerhalb der Systematik der gewohnten Zeitrechung. Sonnen- und Mondkreis passen nicht aufeinander, sind nicht bündig, verfügen über keine Kompatibilität. In sich selbst schlüssig, stehen die beiden Zyklen untereinander in einem un-verbindlichen Verhältnis. Wo sich am Ende des Jahres ihre Bögen berühren, entsteht ein Leerraum, in den gleichsam das neue Jahr gesät wird.



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Welf-Gerrit Otto