Kulturwandel und Wandel der Kultur: Nachhaltige Entwicklung als kulturelle Herausforderung

Keine Armut mehr auf der Welt! Frieden! Kein Hunger! Und sauberes Wasser für alle! Menschenwürdige Arbeitsbedingungen, nachhaltiger Konsum und nachhaltige Produktion, nachhaltige Städte und Gemeinden, saubere und günstige Energie … Klingt utopisch? Ist aber beschlossene Sache! Immerhin konnten sich die UN-Mitgliedsstaaten auf diese und weitere Punkte einigen: In der Agenda 2030 sind insgesamt 17 Sustainable Development Goals (SDGs) und 169 Unterziele festgeschrieben. 2030? Ja, richtig!
Bis 2030 sollen die Ziele erreicht werden.
Wir haben noch neun Jahre Zeit.

Hierzulande berufen sich die Bundesregierung und auch die Schleswig-Holsteinische Landesregierung auf die SDGs und wollen sie in allen Kommunen umsetzen. Die Agenda 2030 ist ein politisches Papier, das mit wissenschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Beteiligung verfasst und 2015 unterschrieben wurde. Auch das Pariser Klimaabkommen wurde 2015 von den UN-Mitgliedsstaaten unterzeichnet. Als Nachfolge des Kyoto-Protokolls legt das Abkommen fest, dass die Weltgemeinschaft die globale Erderwärmung auf 2˚C begrenzt. Die europäische Gemeinschaft will nun mit dem neuen Klimagesetz sogar bis 2050 klimaneutral werden und Netto-Treibhausgasemissionen bis 2030 gegenüber 1990 um mindestens 55 Prozent senken.
So gesehen scheint alles wunderbar zu laufen: Man trifft sich und spricht, man legt gemeinsame Ziele fest, berücksichtigt wissenschaftliche Erkenntnisse über planetare Grenzen und Klimawandel, man folgt dem Motto „Leave no one behind“, und stellt die Schwächsten in den Mittelpunkt.

Das Pariser Klimaabkommen und die Agenda 2030 sind Meilensteine in der internationalen Zusammenarbeit und machen alle Länder zu Entwicklungsländern, die einen Beitrag zur enkeltauglichen Welt leisten wollen. Richtig: Wollen. Nicht müssen. Denn Sanktionen für Fehlverhalten sind in beiden Papieren nicht vorgesehen.
Aber Papier ist geduldig und politische Entscheidungsträger*Innen stehen nicht für Aktionismus oder Einigkeit. Die praktischen Konsequenzen gefallen nicht allen gleichermaßen. Die 17 Nachhaltigkeitsziele sind voller Zielkonflikte. Wer das eine will, muss das andere mögen, das gilt auch für politische Agenden. Am Ende müssen es sowieso die Bürgerinnen und Bürger ausbaden und entscheiden, ob saisonal, regional, bio oder billig jetzt besser für sie oder die Welt ist.
Das klassische Nachhaltigkeitsmodell beschreibt, dass soziale, ökologische und ökonomische Belange bei Entscheidungen berücksichtigt werden sollten, damit auch die zukünftigen Generationen ihre Bedürfnisse wie die heutigen entfalten können. Kritische Stimmen könnten meinen, dass sich dank massiver Lobbyarbeit die ökonomischen Interessen durchsetzen.
Und auf den ersten Blick mag es ja auch schlüssig erscheinen, dass eine auf Wachstum fußende Volkswirtschaft Armut und Hunger viel eher bekämpfen und Bildung und Gesundheit besser gewährleisten kann.
„Die Grenzen des Wachstums“ sind aber seit mindestens einem halben Jahrhundert bekannt: 1972 veröffentlichte der Club of Rome seine vielbeachtete Studie dazu. Ihre Kernaussage: So kann es nicht ewig weitergehen. Und: Gleichgewicht statt Wachstum.
In den Wirtschaftswissenschaften beschäftigt sich die ökologisch orientierte (Nischen-)Teildisziplin mit dem ökonomischen Dilemma von Wachstum und begrenzten Ressourcen: Die Postwachstumsökonomie. Sie fragt nach dem Zusammenhang von nachhaltiger Entwicklung und Wirtschaftswachstum. Wie kann man ein Wirtschaftssystem denken, das aufhört zu wachsen oder gar schrumpft, ohne damit Verzicht zu verbinden? Was kann Wachstum und Wohlstand gesellschaftlich alles bedeuten? Wie vielfältig sind die Vorstellungen eines guten Lebens und welche Ressourcen braucht der Mensch dafür? Wer oder was muss sich mehr verändern: Systeme, Regelwerke, Strukturen oder das Verhalten jedes Einzelnen? Das sind nicht nur ökonomische, sondern kulturelle Fragen, zu denen Kunst- und Kulturschaffende Antworten suchen und finden können.
Kunst und Kultur spielen eine Schlüsselrolle für eine nachhaltige Entwicklung. Sie beteiligen sich zunehmend an Nachhaltigkeits- und Klimadebatten. Ihre Rolle ist eine doppelte: Als Betriebe und Unternehmen arbeiten sie immer nachhaltiger; als Kunst- und Kulturschaffende bearbeiten sie die Themen der Agenda 2030 in ihrer Kunst.
Für ersteres ist das im Herbst 2020 gestartete Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit ein Beispiel. Das Ziel ist, Kultur und Medien bei der Reduktion von klimaschädlichen Gasen zu unterstützen. Es wird von der Beauftragten für Kultur und Medien der Bundesregierung gefördert und initiiert, begleitet, dokumentiert und kommuniziert Pilotprojekte. Die Anlaufstelle bildet „Transformationsmanager*Innen Nachhaltige Kultur“ weiter. Die AbsolventInnen werden befähigt, Prozesse und Projekte in Institutionen anzustoßen und durchzuführen, die Vorbildcharakter für die Branche und darüber hinaus für eine klimagerechte Gesellschaft haben. Dieser „Whole Institution Approach“ denkt Kultur und Medien im Rahmen ihrer Betriebsökonomie und will sie nicht in ihrer künstlerischen Freiheit begrenzen.
Auch die Kulturstiftung des Bundes fördert die Transformation von Kulturproduktion und Institutionen mit spezifischen Programmen. Mit dem Programm TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel wendet sich die Kulturstiftung des Bundes erstmals gezielt an ländliche Regionen und kleinere Gemeinden, um dort Transformationsprozesse anzustoßen. Der Kreis Rendsburg-Eckernförde ist mit der KreisKultur dabei. Die Stadtbücherei in Norderstedt beteiligt sich beim Programm Klimabilanzen in Kulturinstitutionen, ein Pilotprojekt der Kulturstiftung des Bundes, das 19 Kultureinrichtungen dabei unterstützt, eine Klimabilanz zu erstellen und den eigenen CO2-Fußabdruck zu ermitteln. Das Netzwerk der Grünen Bibliotheken ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Institutionen der Kulturvermittlung einen Beitrag zur Umsetzung der Agenda 2030 leisten. Projekte, die sich für Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) einsetzen, laufen zum Beispiel bei der Büchereizentrale Schleswig-Holstein und dem Landesverband der Volkshochschulen Schleswig-Holstein e.V. Über deren Bildungsarbeit verbreiten sich die SDGs bis in die Büchereien und Volkshochschulen in der eigenen Nachbarschaft. Der Rat für nachhaltige Entwicklung (RNE) betont die besondere Rolle der Kunst- und Kreativwirtschaft für den nachhaltigen Umbau der Gesellschaft und fördert Projekte mit dem Fonds Nachhaltigkeitskultur. Mit dem vom RNE geförderten Nachhaltigkeitskodex für Soziokultur liegt nun auch ein branchenspezifischer Leitfaden vor, mit dem sich soziokulturelle Zentren über ihr Verständnis von Nachhaltigkeit klarwerden und berichten können.
In der 2021 veröffentlichten Aktualisierung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie heißt es „wir [streben] eine Gesellschaft an, in der eine Kultur der Nachhaltigkeit verankert ist – als eine Kultur, die auf die 17 SDGs ausgerichtet ist, und damit auf mehr Lebensqualität, Zukunftsfähigkeit, Generationengerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt, und so zugleich die Resilienz konsequent im Blick behält“. Der Kulturbegriff bezieht sich dabei auf die Alltagskultur aller Menschen, für die die Agenda 2030 den Kompass Richtung Nachhaltigkeit stellt. Der kulturellen Bildung komme eine wichtige Rolle für die aktive und schöpferische Gestaltung sowohl des eigenen als auch des gesellschaftlichen Lebens zu, so die Bundesregierung. Auf EU-Ebene soll das neue Europäische Bauhaus die kulturelle Dimension von Nachhaltigkeit in die Umsetzung der Agenda 2030 und den Green Deal einbringen: Die EU als Reallabor, bei dem sich alle in einem co-kreativen Prozess mit ihren Vorstellungen einer nachhaltigen Zukunft einbringen können.
Pandemiebedingt fehlen den sowieso unterfinanzierten Kultureinrichtungen die Gelder, um neben dem Alltagsgeschäft jetzt auch noch was mit Nachhaltigkeit zu machen. Bleibt zu hoffen, dass der politische Rückenwind auch monetär spürbar wird. Denn nachhaltig wäre das.
Nicht zuletzt ist einer Gesellschaft aber nicht nur mit klimaneutralen Kulturbetrieben geholfen. Es braucht auch kritische Kunst- und Kulturschaffende, die als Beobachtende und Kommentierende Widerstand leisten, in dunkle Ecken leuchten, Konflikte thematisieren oder Harmonie stiften. Das Pandemie-Momentum wird in und durch die Branche nachhaltige Spuren hinterlassen. Und so hoffe ich, dass mein Zukunfts-Ich im Jahr 2030 auf einen kulturellen Wandel zurückblicken kann, durch den die Agenda 2030 nicht nur Papier geblieben, sondern gelebte Nachhaltigkeit geworden ist, in Schleswig-Holstein und weltweit.

Dr. Maria Grewe
Maria Grewe ist Kulturwissenschaftlerin und forschte zur kulturellen Dimension von Nachhaltigkeit.
Als Nachhaltigkeitsbeauftragte für Schleswig-Holstein arbeitet sie für die Regionale Netzstelle Nachhaltigkeitsstrategien Nord
(RENN.nord).