Mittwoch, 24. April 2024

Identitätsfragen im Opernspielplan

KulturzeitschriftIdentitätsfragen im Opernspielplan

„Alte weiße Stücke“ – eine überraschend und vermutlich unerwartet ehrliche Einschätzung des eigenen Opernrepertoires, die wir da als Titel für unseren Thementag ausgesucht hatten. Den Impuls zu dieser Veranstaltung hat uns unser Generalmusikdirektor Benjamin Reiners gegeben. Als wir nämlich vor gut eineinhalb Jahren mit der Planung der Spielzeit 21/22 fertig waren, fiel uns auf, dass mit u. a. Madame Butterfly, Jim Knopf, Die Jüdin und Otello ausschließlich „divers gelesene“ Titelfiguren versammelt waren, ebenso wie die Smeraldina in der Liebe zu den drei Orangen oder Monostatos in der Zauberflöte auch wohl als Vertreter eines ethnisch „Anderen“ – „Nicht-Weißen“ in die Stücke hineingeschrieben wurden. Was auch immer das bedeutet. „Anders“ oder „divers“, für wen und wovon eigentlich?
Anfang Mai 2022 hat die Bayerische Staatsoper München, der wohl größte Tanker unter den Opernhäusern in Deutschland, ihre neue Spielzeit für 22/23 verkündet. Der Intendant Serge Dorny wird dabei vom Bayerischen Rundfunk mit den Worten zitiert: „Wir haben eine große Verantwortung als Kulturinstitution: Die Gesellschaft in ihrer ganzen Diversität zusammenzubringen.“1 https://www.br-klassik.de/aktuell/serge-dorny-im-interview-zur-neuen-spielzeit-2022-2023-an-der-bayerischen-staatsoper-100.html (Stand: 28. Mai 2022)

Diese Verantwortung würden wir als Theater Kiel für die Kieler Stadtgesellschaft sicherlich unterschreiben – auch wenn sie immer noch ein hehres Ziel und frommer Wunsch ist. Aber natürlich: Die alte Frage stellt sich uns immer: Warum Theater? Und vor allem: Warum Subventionstheater? Wenn alle uns bezahlen, müssen wir auch versuchen, alle zu erreichen.
Ich bin natürlich selbst als Theatermitarbeiter ein großer Fan des subventionierten deutschen Theatersystems, um das uns sehr viele Menschen auf der Welt beneiden. Ich finde es wichtig, dass eine Stadt sich mit einem Theater ein gesellschaftliches Reflexionsmedium leistet, das die großen oder auch kleinen Fragen der Zeit stellt, und manchmal vielleicht auch versucht, zu beantworten. Wobei das Fragenstellen das Wichtigste ist.
Als Student las ich einmal in den Gedanken von Blaise Pascal Sätze, die mich sehr beeindruckt haben: „Bedenke ich die kurze Dauer meines Lebens, aufgezehrt von der Ewigkeit vorher und nachher; bedenke ich das bisschen Raum, den ich einnehme, und selbst den, den ich sehe, verschlungen von der unendlichen Weite der Räume, von denen ich nichts weiß, und die von mir nichts wissen, dann erschaudere ich und staune, dass ich hier und nicht dort bin; keinen Grund gibt es, weshalb ich gerade hier und nicht dort bin, weshalb jetzt und nicht dann.“ 2 Blaise Pascal, Gedanken, übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von Ewald Wasmuth, Stuttgart 1979, S. 32.
Dieses menschliche Staunen an der eigenen Existenz, diese unablässige Frage: „Was machen wir hier eigentlich auf diesem Planeten? Wie absurd ist das Leben genau hier und heute?“ ist die Keimzelle aller Kunst und dementsprechend auch des Theaters. Für mich selbst ist die künstlerische Auseinandersetzung mit diesem staunenden Fragen eigentlich die einzig mögliche Alternative gewesen, irgendetwas mit meinem Leben anzufangen. Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy beantwortet die Frage „Was ist der Mensch?“3 https://www.deutschlandfunk.de/philosophie-der-mensch-ist-die-frage-was-ist-der-mensch-100.html (Stand: 28. Mai 2022) Siehe dort auch die Betrachtung: „Dieses Streben nach einem ›Sinn‹ hat uns letztlich ins Nichts geführt, weil es nie die Frage des Sinns ist, irgendwohin zu führen. Sinn findet sich in nichts weiter als in Wandel, Austausch, Kreislauf und in der Vorstellung darüber – kurz: in all dem, was Kunst und Wissenschaften entstehen lässt.“ nur halb scherzhaft mit: „Der Mensch ist die Frage: Was ist der Mensch?“ Dementsprechend ist das Theater das menschlichste Medium dieser Welt, denn es stellt unablässig diese Frage.
Und das Musiktheater – dieses „unmögliche Kunstwerk“ (wie Oscar Bie die Oper genannt hat)4 Oscar Bie, Die Oper, Berlin 1913, S. 9. oder das „Kraftwerk der Gefühle“ (wie Alexander Kluge es tat)5 Vgl. Alexander Kluge, Das Kraftwerk der Gefühle & Finsterlinge singen Bass, DVD Edition Filmmuseum 33, München 2008. – ist die verrückteste und – für musikalische Menschen zumindest – beglückendste Form von Theater (behaupte ich jetzt einfach mal so) und kann auf perfekte Weise Intellekt und Sinnlichkeit gleichermaßen bedienen, wobei die Sinnlichkeit des Öfteren auch überwiegen kann.
Dementsprechend steht die Musik auch im Musiktheater bzw. in der Oper oft mehr im Fokus als der Inhalt. „Prima la musica, poi le parole“6 Erst die Musik, dann die Worte, Titel einer Opera buffa von Antonio Salieri, Wien 1786. heißt es da oft, bzw. das Libretto sei „der Musik gehorsame Tochter“7 „Und ich weiß nicht, bei einer Oper muss schlechterdings die Poesie der Musik gehorsame Tochter sein.“ Brief Mozarts an seinen Vater vom 13. Oktober 1781, zitiert nach: Mozarts Briefe. Nach den Originalen herausgegeben von Ludwig Nohl. Salzburg 1865, S. 326-328., wie Mozart das Textbuch seiner Opern einordnete. Und die Libretti mancher – um nicht zu sagen der meisten – Opern geben den Regisseur:innen heute immer wieder harte Nüsse zu knacken. Genau darin scheint die Hauptaufgabe der Regie zu bestehen: Alte Stücke, und durchgängig „Alte weiße Stücke“ anschlussfähig zu machen an aktuelle Diskurse und zeitgenössische Blickwinkel. Der Opernkanon – die ca. 100 Werke von Monteverdi bis Puccini und Strauss, Janáček oder Britten – besteht zu 100% aus Werken „alter weißer Männer“ und transportiert natürlich den Blick dieser vergangenen und nationalistisch eurozentristisch geprägten Zeit. Das heißt, es gibt viel zu tun für die Theater, für Regie und Dramaturgie, diese Werke für das Heute zu adaptieren.

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Ulrich Frey

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    Blaise Pascal, Gedanken, übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von Ewald Wasmuth, Stuttgart 1979, S. 32.
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    https://www.deutschlandfunk.de/philosophie-der-mensch-ist-die-frage-was-ist-der-mensch-100.html (Stand: 28. Mai 2022) Siehe dort auch die Betrachtung: „Dieses Streben nach einem ›Sinn‹ hat uns letztlich ins Nichts geführt, weil es nie die Frage des Sinns ist, irgendwohin zu führen. Sinn findet sich in nichts weiter als in Wandel, Austausch, Kreislauf und in der Vorstellung darüber – kurz: in all dem, was Kunst und Wissenschaften entstehen lässt.“
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    Oscar Bie, Die Oper, Berlin 1913, S. 9.
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    Vgl. Alexander Kluge, Das Kraftwerk der Gefühle & Finsterlinge singen Bass, DVD Edition Filmmuseum 33, München 2008.
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    Erst die Musik, dann die Worte, Titel einer Opera buffa von Antonio Salieri, Wien 1786.
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    „Und ich weiß nicht, bei einer Oper muss schlechterdings die Poesie der Musik gehorsame Tochter sein.“ Brief Mozarts an seinen Vater vom 13. Oktober 1781, zitiert nach: Mozarts Briefe. Nach den Originalen herausgegeben von Ludwig Nohl. Salzburg 1865, S. 326-328.

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