Stefan Schwarck trifft Arne Rautenberg – Literarische Lieblingsorte

Dass Schleswig-Holstein viele traumhaft schöne Orte zu bieten hat, ist kein großes Geheimnis. Und wahrscheinlich hat jeder Schleswig-Holsteiner einen oder mehrere Lieblingsorte. Warum sollte das bei Kunstschaffenden anders sein? Unser Autor Stefan Schwarck lässt sich von Künstlern ihre Lieblingsorte zeigen – die Orte, an denen sie ihre Inspiration, Ruhe oder beides finden. Zum Auftakt hat er den Kieler Lyriker Arne Rautenberg an dessen Lieblingsort – die Steilküste bei Stohl – begleitet.

„Von Meer kann man nie zu viel bekommen“

Nur ein paar Autominuten von Kiel entfernt liegt direkt an der Ostsee in der Gemeinde Schwedeneck die kleine Ortschaft Stohl, dort wo Eckernförder Bucht und Kieler Förde aufeinandertreffen. Feld reiht sich an Feld, die Nähe des Wassers lässt sich bereits spüren. Der kleine Sandparkplatz ist beinahe leer, unter der Woche mittags haben nicht so viele Menschen Zeit für einen Strandspaziergang. An Sommerwochenenden kann es hier ganz anders aussehen. Wir gehen an den Feldern vorbei durch das kleine Stück Wald den Weg entlang, der uns zur Steilküste führt. „Das Schöne an der Ostseeküste ist die abwechslungsreiche Landschaft.“ sagt Arne Rautenberg. Links von uns liegen die Felder, rechts stehen Bäumen, vor uns öffnet sich der Blick auf das Meer. „Ich mag die Ostsee lieber als die Nordsee. Nordsee finde ich auch gut, aber das Hügelland ist mir näher als die Marsch.“

Am Kopf der steilen Holztreppe zum Strand steht eine Bank. Hier entstand mal ein Text für eine Zeitung, erzählt der gebürtige Kieler. „Um vier Uhr morgens bin ich hier rausgefahren, habe mich auf die Bank gesetzt und beschrieben, was ich sehe. Um halb fünf kamen tatsächlich schon erste Spaziergänger vorbei. An der Steilküste morgens Halbfünf. So habe ich den Text damals genannt.“ Wir lassen den Blick schweifen von der Eckernförder Bucht bis zur Kieler Förde. Im Nordwesten ist Ostseebad Damp zu sehen, in die andere Richtung der Ausgang der Kieler Förde. Zu unseren Füßen liegt der schmale Strand – und dahinter die Ostsee. An guten Tagen reicht der Blick von hier oben bis nach Dänemark. „Das Meer ist faszinierend. Wenn du hier stehst, verstellt nichts mehr den Blick. Totale Übersicht.“ Übersicht hin oder her – die Frage, ob der schwarze Punkt am Horizont schon Dänemark oder nur ein Schiff ist, lässt sich selbst nach eingehender und wortreicher Spekulation nicht abschließend klären. Wir beschließen unsere kleine Reise fortzusetzen. 58 Stufen später stehen wir am Strand. „Ich bin mal von Eckernförde am Wasser lang bis Kiel gewandert. 14 Stunden marschieren, danach bist du total erledigt – aber glücklich.“ Das hellgrün leuchtende Wasser lädt zum Baden ein. Mitte Juli drohen selbst in der Ostsee keine Erfrierungen. Mangels passender Badekleidung verzichten wir an diesem Tag trotzdem auf die Erfrischung.

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„Ich bin oft hier. Zu allen Jahreszeiten. Am Meer geht das, am Meer ist es zu jeder Jahreszeit schön. Und wenn wir Künstler zu Besuch haben, dann nehme ich die mit hierher. Für Leute, die aus dem Ruhrgebiet oder dem Allgäu kommen und das nicht kennen, kann das hier“ – Arne Rautenberg deutet mit der Hand über das Wasser – „dann kann das hier alles schon beinahe zu viel sein. Obwohl: Von Meer kann man nie zu viel bekommen.“

Steilküsten haben ihren ganz eigenen Zauber. Durch die Natur geformt unterliegen sie ständiger Veränderung und Umformung. Vor allem im Winter und bei Nordostwind ist das steil aufragende Ufer rundum die Gemeinde Schwedeneck den Naturgewalten besonders ausgeliefert. Der Orkan „Axel“ bescherte der Ostsee Anfang 2017 die stärkste Sturmflut seit 2006. Der untere Teil der – glücklicherweise an diesem Tag bereits reparierten – Treppe bei Stohl fiel damals den Wellen zum Opfer. Der schroffe Übergang zwischen Land und Meer schafft reizvolle Kontraste. Steine und Abbruch am Fuß der Steilküste bieten immer Raum und Gelegenheit für neue Entdeckungen.

„Vor einiger Zeit habe ich hier unten sogar einen alten Grenzstein gefunden. Die Schrift war noch zu erkennen. Von da oben bricht ja immer wieder Land ab. Was ganz schön gefährlich sein kann. Vor einiger Zeit wurde schon mal jemand verschüttet.“ Im Augenblick allerdings droht von der Steilküste keine unmittelbare Gefahr, die schwarzen Wolken darüber wirken hingegen ein wenig einschüchternd. Schwarz, dunkelgrau, blau, grün – die Ostsee wechselt im Minutentakt den Farbton, strahlend hebt sich das Weiß der Segelboote vom Wasser ab. In der Ferne ist das erste Grollen des nahenden Sommergewitters zu hören.

Ein paar vereinzelte Spaziergänger verlieren sich am Fuß der Steilküste. Den Blick immer wieder suchend nach unten gerichtet gehen wir weiter. Wir sammeln Steine. „Kennst du die Geschichte von den Hühnergöttern? Das sind Steine mit einem Loch wie dieser hier. Da kannst du ein Lederband durchziehen und es als Amulett tragen.“

Dieser Aberglaube stammt vermutlich ursprünglich aus dem slawischen Raum, ist aber im gesamten Ostseeraum verbreitet. Wir verzichten heute darauf, uns gegen böse Geister und Krankheiten zu schützen. Wieder bückt sich Arne Rautenberg, um etwas aufzusammeln. Dieses Mal ist der Stein allerdings deutlich zu groß, um ihn sich um den Hals zu binden. „Der würde wunderbar in unseren Garten passen. Herrliche Farben, tolle Strukturen.“ lacht der Künstler, stemmt das Fundstück gegen die Sonne und dreht es zwischen seinen Händen. „Da könnte man was draus machen.“ Wieder ist da diese kindliche Freude am Spielen, am Entdecken, die sich in seinen Kunstwerken wie in seinen Texten widerspiegelt. Gedichte schreiben ist ja irgendwie auch immer ein bisschen wie Aufsammeln. Nur eben Worte statt Steine.

Inzwischen jagen die immer dunkler werdenden Wolken die Segelboote vor sich her. Wir machen uns vorsorglich auf den Rückweg. „Kiel ist Deutschlands größte Stadt am Meer,“ sagt Arne Rautenberg, als wir die lange Holztreppe vom Strand wieder hinauf steigen. „Und wenn man mit dem Meer was anfangen kann, ist es nicht verkehrt hier zu leben.“

Nachbemerkung: Wir haben es vor dem Gewitter zurück zum Parkplatz geschafft. Beinahe jedenfalls. //

Stefan Schwarck
Autor, Bühnenpoet und Poetry Slammer