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Die Künstlerin Anja Jensen. Überwachung, Sicherheit und Kontrolle

KulturzeitschriftDie Künstlerin Anja Jensen. Überwachung, Sicherheit und Kontrolle

Sie malt mit Licht, taucht ein in die Biografien ihrer Modelle und lässt sich beim Überfahren einer roten Ampel blitzen. Das Werk der Künstlerin Anja Jensen ist so abwechslungsreich in den Motiven wie vielfältig in der Wahl der Mittel. Wie eine Konstante ziehen sich die Themen Sicherheit, Überwachung und Kontrolle hindurch.

Als ich Anja Jensen zum zweiten Mal treffe, ist sie bereits ganz beseelt von ihrem neuen Projekt. Drei Wochen zuvor hatten wir ein langes Gespräch geführt über ihre künstlerische Arbeit, als Grundlage für diesen Artikel. Nun treffen wir uns erneut, um die Bebilderung dafür auszuwählen. Gerade ist sie aus Südfrankreich zurück, aus Arles. Sie erzählt begeistert von den Menschen, die sie kennen gelernt hat, und vom dort omnipräsenten Stierkampf. Das archaische Kräftemessen zwischen Mensch und Stier hat auch in Südfrankreich eine lange Tradition und ist – ebenso wie in Spanien – sehr umstritten. Dort werden die Stierkämpfer gefeiert wie Stars. „Ich frage mich, woher diese große Faszination kommt. Und auch, was mich selbst an diesem Thema so fasziniert.“ In ein paar Tagen geht es für Anja Jensen nach Madrid. Sie wird dort mehrere Monate verbringen, noch tiefer eintauchen in ihr aktuelles – man könnte sagen – Forschungsthema, wird Menschen kennen lernen, ihr Vertrauen gewinnen, sie durch ihren Alltag begleiten und schließlich die Orte und Situationen finden für ihre aufwendig inszenierten Fotografien.

Subtraktive Inszenierung

„Ich suche meine Bilder nicht, ich finde sie“, sagt Anja Jensen über ihre Arbeitsweise. Am Anfang steht nicht der Entwurf, nicht die kompositorische Skizze. Am Anfang steht die Begegnung, der Ort, die Situation. Ein offener Prozess des Orientierens, des Kennenlernens, bis es auf einmal „klick“ macht, bis die Künstlerin auf etwas reagiert, berührt wird, Ort und Motiv sich ihr förmlich aufdrängen. Dann beginnt die inszenatorische Arbeit. Oder, wie Anja Jensen selbst sagt, dann beginnt sie, „wie ein Bildhauer bei einer Skulptur, alles wegzuhauen, was überflüssig ist. Das, was wichtig ist, versuche ich immer weiter zu verdichten.“

Dabei malt Anja Jensen mit Licht. Sie bevorzugt die Dämmerung, manchmal auch die Dunkelheit. Die letzten Sonnenstrahlen, die Straßenlaterne, Leuchtreklame, die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos, die Beleuchtung eines Pools, und das wohlgesetzte Spotlight – das sind die Pinsel, die sie während der langen Belichtungszeiten ihrer Fotografien schwingt.

Die Fotografie ist das Ergebnis, zum Werk gehört der Prozess. Anja Jensen ist nicht „nur“ Fotografin. Sie ist Künstlerin, hat unter anderem Malerei in Kiel bei Peter Nagel studiert und war Meisterschülerin bei Ulrich Erben in Münster. Prägend für Anja Jensen war Manfred Schneckenburger, künstlerischer Leiter der Documenta 1977 und 1987 und als Rektor der Kunstakademie in Münster „Kunst und Öffentlichkeit“ unterrichtete. Kontrolle, Sicherheit und Überwachung waren damals ihre Themen und sind es in gewisser Weise bis heute. Für ihr Abschlussprojekt hat sie am Flughafen Münster-Osnabrück Handgepäck gescannt.

„Die Überwachung des Menschen ist angesagt, seine ‚Durchleuchtung‘ und damit auch ein mehr oder weniger großes Maß an Entindividualisierung und damit Begrenzung seiner Freiheit. Wir bewegen uns in einem sehr ambivalenten Bereich, denn den technischen Möglichkeiten der Kontrolle sind kaum noch Grenzen gesetzt […] Wo wird Kontrolle selbst zum Sicherheitsproblem?“, schrieb der künstlerische Leiter des Klosters Bentlage in Rheine Martin Rehkopp damals über die Arbeit. Die Serie mit dem Titel „Palma – München – Amsterdam“ (1999) wirkt heute noch immer hochaktuell – und gleichzeitig wie aus einem anderen Zeitalter: Im Gepäck sehen wir Dartpfeile, Werkzeugkoffer, Bierflaschen – nach dem 11. September 2001 und den anschließenden weltweiten Verschärfungen der Regeln für den Flugverkehr, an die wir uns alle gewöhnt haben, erhält die frühere Normalität etwas Absurdes, fast schon Anarchisches. Beim Zoll im Hamburger Hafen arbeitete Anja Jensen später auf ähnliche Weise. Hier wurden ganze Container durchleuchtet. Gefunden wurden Kokain und Elefantenstoßzähne. Die Abbilder druckte sie in Originalgröße auf LKW-Planen (2002).

Speedboat, 2002. Farbdruck auf LKW-Plane, 259 x 606 cm, Flughafen Münster Osnabrück.
Umsiedlungsgut, 2002. Farbdruck auf LKW-Plane, 259 x 606 cm, Flughafen Münster Osnabrück.

Anarchisch anmutend auch Shooting Star aus dem Jahr 2000: An einer Kreuzung in Münster ließ sie sich beim Überfahren einer roten Ampel blitzen und verwendete das entstandene Foto, um es großformatig an der Kreuzung aufzuhängen.

Die Infrastruktur der Kontrolle

Anja Jensen nutzt in ihren frühen Arbeiten die vorhandene Infrastruktur der Überwachung und Kontrolle für ihre Kunst. Der Gepäckscanner und die Verkehrsüberwachungsanlage sind ihr Fotoapparat. Die Abbildungen, die diese Geräte produzieren, sind gleichzeitig potenzielles Beweismaterial für einen Regelverstoß und erheben somit Anspruch darauf, die Wirklichkeit zu zeigen, einen Sachverhalt zu dokumentieren, der zu rechtlichen Konsequenzen führt. Und doch sind diese frühen Werke nur auf den ersten Blick fotografische Dokumentationen, Readymades, aus ihrem eigentlichen Kontext gerissene und zur Kunst erhobene Objekte des (überwachten) Alltags. „Dokumentation ist mir viel zu wenig“, sagt Anja Jensen. Sie griff schon während der Entstehung künstlerisch ein: Beim Scannen des Gepäcks regelte sie die Farbeinstellungen, die eigentlich verschiedene Materialbeschaffenheiten erkennbar machen sollen, nach ästhetischen Gesichtspunkten. Das Ergebnis erinnert mehr an PopArt als an Röntgenbilder. Und das an der Kreuzung in Münster entstandene Foto hält zwar tatsächlich den Moment fest, an dem Anja Jensen die rote Ampel überfährt und bildet in dem Sinne die Wirklichkeit ab. Doch war diese manipuliert. Polizei war vor Ort, die Kreuzung war abgesperrt, der Regelverstoß blieb ohne Konsequenz. „Ich musste sicherstellen, dass ich das komplette Foto als Negativ erhalte“, erinnert sich Anja Jensen. „Deswegen habe ich schon lange Zeit vorher Kontakt mit der Polizei aufgenommen und geschildert, dass ich für ein Kunstprojekt im öffentlichen Raum bei Rot über die Ampel fahren möchte. Es brauchte einiges an Überzeugungsarbeit – denn es war schließlich ihre Aufgabe, einen solchen Akt Regelverstoßes zu verhindern, den ich auch noch vorsätzlich begehen wollte. Es ging ein gutes halbes Jahr hin und her, bis ich die Erlaubnis hatte. Aber das gehört dazu. Das ist Teil der künstlerischen Arbeit. Die Kreuzung war für den Moment gesperrt, in dem ich drüberfuhr. Dadurch war eine künstliche, auf das wesentliche reduzierte Situation entstanden, die die Realität zu einer Hyperrealität verdichtet.“

Shooting Star, Münster (2000).

Dehnen um zu verdichten

Anja Jensen nutzt nicht nur die Infrastruktur der Kontrolle für ihre Kunst, sie greift auch selbst zur Kamera. Im Jahr 2001 startete sie die Reihe „Tatort“ die sie bis heute fortführt. Aus einer leicht erhöhten Perspektive – wie jene von Überwachungskameras – inszeniert Anja Jensen im Dämmerlicht mysteriöse, wie Filmstills wirkende Szenen. Viele Werke entstanden in Schleswig-Holstein, insbesondere auf Amrum, Föhr und um Kiel. Weitere in Nord- und Südamerika, in Asien und in verschiedenen europäischen Ländern. Im Katalog für die Ausstellung „Tatort“ im Museum Kunst der Westküste auf Föhr schrieb der heutige Wissenschaftliche Vorstand der Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen auf Schloss Gottorf, Thorsten Sadowsky, im Jahr 2013 über Anja Jensens „Tatorte“: „Die weit gereiste Künstlerin hat magisch-zwielichtige Szenen vielfach an unterschiedlichen städtischen Orten inszeniert, die zwischen Vorortidyll, geschütztem Wohnquartier oder urbaner Zumutung changieren. Der Einbruch eines rätselhaften Grauens in eine vermeintlich heile Welt erinnert zuweilen an die verstörenden Vorstadtkulissen des amerikanischen Fotokünstlers Gregory Crewdson, der mit höchstem technischem Aufwand den Abgründen des amerikanischen Alltagslebens auf die Spur zu kommen sucht. Auch Anja Jensens magischer Twilight- Realismus evoziert einen fiktiven Erzählraum, der die in Scheinwerferlicht getauchten Akteure zu Verdächtigen, Tätern oder Opfern macht. Gleichwohl gibt der mutmaßliche Tatort keinen Aufschluss über das eigentliche Geschehen; stattdessen ist es die Atmosphäre des Geheimnisvollen und Unaufgeklärten, die den Betrachter zu Spekulationen veranlasst.“

Mit Belichtungszeiten von bis zu sechs Minuten ist bei Anja Jensen auch das Fotografieren selbst ein Prozess. Nachdem sie zuvor für das Motiv alles Überflüssige entfernt hat, addiert die Kamera in dieser langen Zeit nun die Lichtquellen und Lichtpunkte. „Ich glaube, langsamer kann man kaum noch fotografieren“, lacht sie. „Aber dadurch, dass die Kamera das Licht addiert, kann ich während der Belichtungszeit ganz bewusst Akzente setzen – indem ich zum Beispiel einen Spot nur für eine kurze Zeit beleuchte und die künstlichen Lichtquellen steuere. Manches lässt sich nicht beeinflussen. Und so passiert es, dass während der Aufnahme zum Beispiel der Himmel für einen Moment aufgerissen ist, oder im Hintergrund ein vorbeifahrendes Auto mit seinen Scheinwerfern einen ungeplanten Lichtakzent gesetzt hat. Solche Momente sind großartig!“ Am Ende entsteht keine Momentaufnahme, kein Abbild der Wirklichkeit, sondern vielmehr die in Gleichzeitigkeit gebannte Essenz eines Zeitraums. Seine Verdichtung, die ein Nacheinander gewesen ist.

Leti

Leti, Mexiko Stadt (2016).

Die Abwesenheit von Sicherheit

Im vergangenen Jahr wurde Anja Jensen mit dem Kunstpreis der Schleswig-Holsteinischen Wirtschaft ausgezeichnet. Die Stiftung Landesmuseen Schloss Gottorf zeigte unter dem Titel No Go im Frühjahr eine Auswahl ihrer Bilder im Kreuzstall. Viele davon stammten aus dem Projekt Ciudadanas, das die Künstlerin 2016/17 im Rahmen des Deutschland- Jahres in Mexiko realisiert hat. Sie zeigen Frauen aus dem Viertel Tépito in Mexiko-Stadt. Das Viertel gilt als „No-Go-Area“ und auch die Polizei traut sich nicht hinein. Hier gelten eigene Gesetze. Über mehrere Monate hat Anja Jensen das Viertel besucht, die Frauen und ihre Geschichte kennengelernt und Vertrauen aufgebaut. Ihr Vorgehen als „Feldforschung“ zu bezeichnen, lehnt sie vehement ab. „Ich komme nicht raus und sage: So, ich weiß jetzt Bescheid wie das dort läuft. Ich dokumentiere nicht, sondern schaffe auch hier Inszenierungen. Und zwar mit den Protagonistinnen zusammen. Sie erzählen mir ihre Geschichte, und wir verdichten sie gemeinsam. Mein Status als Gast und mein europäischer Blick waren mir bei diesem Projekt besonders bewusst.“ Anders als in ihren sonstigen Arbeiten hat Anja Jensen diese Werke jeweils mit kurzen Texten versehen. Sie schildern die Geschichte hinter dem Foto, erläutern die Besonderheit des Ortes für die Protagonistin. „Mit der Ausstellung der Fotografie treffen sich die Protagonistin und ich mit dem Betrachter. Wir kommen aber von unterschiedlichen Seiten. Es ist die Schnittstelle. Für uns steht das Bild am Ende, es ist das Resultat unserer gemeinsamen Zeit. Für die Betrachter ist es der Anfang der Geschichte.“ Ich bin gespannt auf die Geschichten aus Madrid und die Schnittstellen zum Betrachter, die sie von dort mitbringen wird.

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