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Fairtrade Stadt Lübeck e. V.

Fairtrade Stadt Lübeck e. V. Interview mit Horst Hesse

Seit den frühen 1970er Jahren setzt sich Horst Hesse für globale Gerechtigkeit und fairen Handel ein. Er ist Gründungsmitglied des Bündnis Eine Welt und war dessen erster Vorsitzender. Katja Mentz befragt ihn zu seinen Erinnerungen aus den letzten Jahrzehnten.

Wir schreiben das Jahr 1971, Gründungsjahr von Greenpeace und Ärzte ohne Grenzen sowie der Vereinigten Arabischen Emirate. Erich Honecker wird Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED. Bundeskanzler Willy Brandt erhält in Oslo den Friedensnobelpreis. In Schleswig-Holstein regiert die CDU mit Gerhard Stoltenberg als Ministerpräsident. Horst und Heiderose Hesse ziehen mit ihrem 18 Monate alten Sohn Jan Matthias aus dem Süden der Bundesrepublik nach Lübeck. Hier beginnt Horst Hesse bei der Firma Dräger eine Abteilung für interne Revision aufzubauen. Zeitgleich reift bei dem Elternpaar der Gedanke, sich auch für das Wohl anderer Kinder einzusetzen. Gemeinsam beschließen sie, sich in dem internationalen Kinderhilfswerk terre des hommes zu engagieren.

Heute, 53 Jahre später: An einem sonnigen Nachmittag im Juni 2024 besuche ich den mittlerweile 85-jährigen Horst Hesse in seinem schönen Garten und befrage ihn zu seinen Erinnerungen aus vergangenen Jahrzehnten.

Horst Hesse ist Mitgründer es Bündnis Eine Welt e.V..

Du blickst auf mehr als 50 Jahre Engagement für globale Gerechtigkeit und Fairen Handel zurück. Wie fing es damals für dich an?

Horst Hesse: Meine Frau Heiderose und ich entschieden uns 1971 für die Mitarbeit bei der Kinderrechtsorganisation terre des hommes, weil uns der Leitsatz, ein Zitat des Schriftstellers Saint-Exupery, sehr inspirierte: „Mensch sein, das heißt Verantwortung fühlen, sich schämen angesichts einer Not, auch wenn man offenbar keine Mitschuld an ihr hat, stolz sein auf den Erfolg des anderen, fühlen, dass man mit seinem eigenen Stein mitwirkt am Bau der Erde.“

Wie sah damals eure praktische Arbeit bei terre des hommes aus?

Unsere Aktivitäten bestanden anfangs zunächst darin, über Anzeigen in den Lübecker Nachrichten Sachspenden zu sammeln, um damit auf Flohmärkten Geld einzunehmen. Wir schleppten regelmäßig bis zu 60 Bananenkartons mit Büchern auf den Lübecker Schrangen, erhielten aber auch wertvolle Antiquitäten, Bilder und andere Dinge als Spende, die wir verkauften, um so für die Projekte von terre des hommes (tdh) Geld einzunehmen. Mit unserer Lübecker Ortsgruppe unterstützten wir ein Entwicklungsprojekt in Mosambik. Mosambik galt damals als das ärmste Land. Nach Besuchen dieses Projekts konnten wir später eine Partnerschaft zwischen einer Schule in Mosambik und einer Lübecker Schule vermitteln. Ich erinnere mich auch noch an ein Benefizkonzert im Rathaus, das wir organisiert hatten, und an Plakatausstellungen in der Lübecker Stadtbibliothek. Außerdem informierten wir natürlich über die Arbeit von terre des hommes mit Flugblättern, die zu der Zeit noch auf Schreibmaschinen getippt werden mussten.

Im Lauf der Jahre hat sich unser Engagement weiterentwickelt. Über die Arbeit gegen ausbeuterische Kinderarbeit kamen wir schließlich zu den Themen Welthandel und Fairer Handel. In den späten 1980er Jahren schlossen wir uns der Lübecker Weltladen-Gruppe an, machten Ladendienste, meine Frau auch den Einkauf. Mich zog es zur Bildungsarbeit an Schulen und ich gründete das Info-Zentrum Eine Welt. In den 1990er Jahren führte ich mit Schulklassen regelmäßig die Aktion „Straßenkind für einen Tag“ durch, bei der die Kinder Arbeiten auf der Straße verrichteten, wie beispielsweise Schuhe putzen, um sich in die Lage von Kindern armer Familien hineinzuversetzen.

Wie war damals die politische Lage und welche Organisationen und Initiativen für globale Gerechtigkeit gab es?

Bundesweit engagierten sich kirchliche Gruppen für Fairen Handel. 1975 wurden die GEPA als „FairHandels-Importorganisation“ gegründet sowie die „AG Dritte-Welt-Läden“, die später zum Weltladen-Dachverband wurde. In Schleswig-Holstein hatten wir Unterstützung durch den Kirchlichen Entwicklungsdienst.

Damals war die Sprache von den „Industrieländern im Norden“ und den „unterentwickelten Ländern“ im Süden, ein Verständnis von Entwicklungspolitik, das heute längst überholt ist.

Für die Landespolitik spielte Fairer Handel und entwicklungspolitisches Engagement in den 1970er- und frühen -80er Jahren jedoch keine Rolle. Das änderte sich erst 1988 mit dem Regierungswechsel von CDU zur SPD unter Ministerpräsident Björn Engholm. Die Schleswig-Holsteinische Ministerin für Bundesangelegenheiten, Marianne Tidick entwickelte 1989 ein Konzept für das „Dritte Welt Engagement des Landes Schleswig-Holstein“ und lud zuvor mehr als 60 „Dritte Welt Gruppen“ nach Kiel ein.

Bei dieser Veranstaltung äußerte sie die noch heute gültigen Worte: „Richtig verstandene Entwicklungspolitik umfasst alle Politikbereiche. Sie kann nicht länger als ein spezielles Politikfeld verstanden werden. Entwicklungspolitik kann nur dauerhaft Erfolge erzielen, wenn sie eine Dimension der Gesamtpolitik wird und nicht nur vom Bund, sondern auch von den Ländern getragen wird.“ Das sehe ich 35 Jahre später bedauerlicherweise noch nicht realisiert, weder auf Bundes- noch auf Landesebene.

Nach dieser Veranstaltung in Kiel gab es neun weitere landesweite Arbeitstreffen. Bis zum Jahr 1994 bildete sich ein Rat mit sechs gewählten Regionalsprecher*innen und der Name Bündnis Entwicklungspolitische Initiativen (B.E.I.) wurde festgelegt. Am 18. Juni 1994 fand dann die Vereinsgründung des B.E.I. statt -B.E.I. statt – heute Bündnis Eine Welt Schleswig-Holstein e.V. (BEI)

Du gehörst zu den Gründungsmitgliedern des BEI und warst erster Vorsitzender. Was waren damals deine Ziele?

Bei terre des hommes habe ich gelernt, dass es wichtig ist, durch Projekte punktuell Not zu lindern, dass aber vielfältig Strukturen geändert werden müssen, um Not, Hunger und Menschenrechtsverletzungen zu beseitigen, und dass Bildungs- und Anwaltschaftsarbeit nötig sind. Das waren Beweggründe, mich landes- und bundesweit zu vernetzen.
Nach Gründung des BEI am 18. Juni 1994 in Rendsburg gab es eine vom Kirchlichen Entwicklungsdienst geförderte halbe Personalstelle für die Koordinierungs- und Vernetzungsarbeit, Vermittlung von Referent*innen, Durchführung und Koordinierung von Veranstaltungen sowie Geld für Miete der Geschäftsstelle und Reisekosten. Schon damals wurden die Fördermittel leider nur für jeweils ein Jahr bewilligt.

In dem Jahr hatte ich meine hauptberufliche Arbeit bei der Firma Dräger beendet und bin mit 56 Jahren in den Vorruhestand gegangen, um mich ganz dem entwicklungspolitischen Engagement widmen zu können.
Höhepunkte waren für mich in den folgenden Jahren die landesweiten Kampagnen „Fair von Meer zu Meer“ und „Fair kauft sich besser“, die durch das BEI koordiniert wurden.

Neben der landes- und bundesweiten Kampagnen- und Vernetzungsarbeit hast du dich all die Jahre weiterhin stark in Lübeck engagiert. Dabei hast du dir immer wieder neue Projekte einfallen lassen.

Ja, das stimmt. In Lübeck habe ich zum Beispiel über viele Jahre die Sendung „Radio Mondiale – das Magazin, das über den Tellerrand schaut“ im Offenen Kanal gemacht. Jeden Monat zur gleichen Zeit habe ich mit Leuten aus Politik und entwicklungspolitischen Organisationen gesprochen und über Kampagnen und Projekte informiert. Vor Wahlen habe ich Politiker*innen ins Studio geholt und interviewt und 1996 vor der Landtagswahl zu einer Podiumsdiskussion eingeladen. 2012 habe ich beispielsweise eine Sendung zu dem Thema „20 Jahre nach der UN-Konferenz in Rio“ gemacht und speziell ökologische Kinderrechte thematisiert – das war damals eine internationale Kampagne von terre des hommes. Ungefähr Anfang 2000 haben Heiderose und ich uns die Aktion „Faire Schultüte“ einfallen lassen. Wir haben uns damit an Lübecker Kitas gewandt, um einerseits über das Thema Fairer Handel zu informieren und zugleich darauf hinzuwirken, dass fair produzierte Produkte die Schultüten füllen. Das lief damals bereits in Kooperation mit dem Weltladen, der allerlei schöne Kleinigkeiten für Kinder führt. Weil diese Aktion so erfolgreich war, wurde sie später vom BEI übernommen und landesweit durchgeführt. Ein weiterer Höhepunkt war natürlich auch, dass Lübeck 2011 als erste Stadt in Schleswig-Holstein Fairtrade-Stadt wurde. Ich hatte ein Jahr zuvor einige Akteur*innen aus Vereinen, Politik und Wirtschaft eingeladen, um gemeinsam darauf hinzuwirken, alle fünf Kriterien für die Auszeichnung durch Fairtrade Deutschland zu erfüllen. Dies gelang uns in weniger als elf Monaten. Seither arbeiten wir konstant und sehr aktiv als gut vernetzte Steuerungsgruppe zusammen und können in den vergangenen Jahren immer wieder Zulauf von engagierten jüngeren Menschen verzeichnen.

2014 fand in Lübeck der Internationale Hansetag statt. Mit annähernd 200 Städten aus 16 Ländern ist die Hanse eines der größten Städtebündnisse weltweit. Meine langjährige Erfahrung hat mich gelehrt, dass es erfolgreicher ist, bestehende Gruppen und Netzwerke zu reaktivieren und zu nutzen, anstatt neue zu gründen. So auch hier. Denn es gelang uns, dass der Faire Handel 2014 erstmals bei einem Hansetag auf die Agenda gesetzt wurde und seither bei jedem Internationalen Hansetag Thema ist. Als Begleitprogramm organisierten wir einen Fair+Bio+Regional-Markt, einen Fairen Hanse-Brunch unter freiem Himmel und Workshops zum Fairen Handel. Hierbei gingen wir der Frage nach, ob die Hanse im Mittelalter fair gehandelt hat, wer durch den Handel reich und wer arm wurde. Die Eröffnungsreden zu unseren Veranstaltungen hielten der damalige Lübecker Umweltsenator und Robert Habeck als Umweltminister des Landes.

Für die ein Jahr später erfolgte Gründung des internationalen Projekts FAIRE HANSE erhielten wir 2019 als Fairtrade-Stadt Lübeck einen Sonderpreis von Engagement Global. Auch dieses Projekt besteht weiterhin und ist bei jedem Internationalen Hansetag präsent, um innerhalb des Städtebündnisses weitere Städte für das entwicklungspolitische Engagement und öko-faire öffentliche Beschaffung zu gewinnen.

Besonders hervorzuheben ist noch unsere Aktion „Mein Bild für Fairen Handel“. Ich hatte damals Kontakt zur Lübecker Musik- und Kunstschule aufgenommen und über einen BINGO Antrag eine finanzielle Förderung für die Materialien erhalten. So sind rund 150 Bilder auf Leinwand von Kindern aus unterschiedlichen Schulen entstanden, die an verschiedenen Orten gezeigt wurden. 2017 gab es eine große, lebende Ausstellung in der Lübecker Innenstadt, als Schüler*innen sich mit einem Bild in der Hand in der Lübecker Fußgängerzone aufreihten. Ein Foto mit den Kindern und allen Bildern ist auf dem Lübecker Schrangen entstanden, dort, wo wir vierzig Jahre zuvor unsere Flohmärkte für terre des hommes veranstaltet hatten. Eine weitere besondere Aktion sind die Citylight Plakate, die wir seit einigen Jahren auf den großen Werbekästen an Bushaltestellen hängen lassen dürfen und die jedes Mal zusammen mit dem Lübecker Bürgermeister Jan Lindenau bei einem Pressetermin eingeweiht werden. Dabei haben wir zum Beispiel während der Pandemie auf die Initiative Lieferkettengesetz hingewiesen oder zur Weihnachtszeit mit dem Motto „LÜBECKERINNEN SCHENKEN FAIR“ für nachhaltigeren Konsum geworben. In diesem Jahr werden wir vor der Fairen Woche das Jahresthema „Klimagerechtigkeit“ auf das Plakat bringen und an insgesamt 28 Bushaltestellen mit dem Motiv und QR-Code darauf aufmerksam machen.

Ich möchte hierbei betonen, dass ich zwar oft die Ideen hatte, die Umsetzung jedoch ohne die gesamte Steuerungsgruppe nicht gelungen wäre. Auch unsere Internetseite sowie Facebook mit über 800 und Instagram mit fast 600 Follower*innen tragen dazu bei, dass unser Engagement inzwischen in der breiten Bevölkerung ankommt.

Was wäre, wenn es das BEI nicht gäbe…?

…dann müsste ein Netzwerk auf Landesebene gegründet werden. Vorbilder für Schleswig-Holstein waren damals Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Heute gibt es in allen Bundesländern solche Netzwerke.

Welche Ziele siehst du für das BEI in der Zukunft?

Dass es mindestens sechs, von der Landesregierung dauerhaft finanzierte, regionale Mitarbeitende geben muss, die sich vernetzen und die Kommunen darin unterstützen, kommunale Entwicklungspolitik zu betreiben. Auch müssen wir weiter an dem „Entwicklungsland Deutschland“ arbeiten.

Was genau meinst du damit?

1997 beschäftigte sich die Arbeitsgemeinschaft der Eine Welt Landesnetzwerke in Deutschland e.V. (agl), der ich ebenfalls angehörte, mit der Reform der Entwicklungspolitik in Deutschland. Im Verständnis der agl kann Entwicklungspolitik nur dann als Strukturpolitik angesehen werden bzw. in der Umsetzung greifen und zu Resultaten führen, wenn die Situation im eigenen Land als ebenfalls entwicklungsbedürftig angesehen wird. Das heißt, wir müssen auch die Strukturen in den reichen Ländern des Globalen Nordens mit ihren weder ökologisch noch sozial zukunftsfähigen Lebens- und Produktionsweisen verändern und entwickeln. Hierbei spielen die UN-Nachhaltigkeitsziele eine wichtige Rolle.

Beschreibe dein persönliches Fazit aus 50 Jahren Engagement.

Entwicklungspolitik ist das Bohren dicker Bretter und ein mühsames Geschäft. Ich wünsche mir, dass sich alle Menschen in Schleswig-Holstein die Frage stellen: „Möchte ich Teil des Problems oder lieber Teil der Lösung sein und mein Verhalten entsprechend verändern?“

Das Gespräch mit Horst Hesse führte Katja Mentz, Mitglied der Steuerungsgruppe Fairtrade-Stadt Lübeck und seit 2010 mit Horst Hesse aktiv für Fairen Handel und Faire Hanse.


Brücken bauen – 30 Jahre Bündnis Eine Welt Schleswig-Holstein

18,90 

Thema VIII, in Kooperation mit dem Bündnis Eine Welt Schleswig-Holstein e. V.. 196 Seiten.

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