Die Gründung des Büchereivereins Schleswig-Holstein e.V. am 28.03.1995 war mehr als ein administrativer Akt – sie war das Ende eines jahrzehntelangen Ringens um effiziente und gerechtere Strukturen zur Förderung des öffentlichen Bibliothekswesens. Drei Institutionen für das ländliche Büchereiwesen, unterschiedliche Fördermodelle, geteilte Verantwortlichkeiten, dazu die vier kleineren Büchereisysteme der kreisfreien Städte: Das schleswig-holsteinische Büchereiwesen der frühen 1990er Jahre glich einem komplexen Puzzle. Wie es gelang, aus der „Dreifaltigkeit“ der Institutionen außerhalb der kreisfreien Städte eine moderne, einheitliche Organisation zu schaffen, ist eine Geschichte von institutionellem Wandel und persönlichem Engagement.
Anfang der 1990er Jahre präsentierte sich das schleswig-holsteinische Büchereiwesen als verwirrendes System. Drei Institutionen existierten nebeneinander: Im Landesteil Schleswig oblag das öffentliche Büchereiwesen dem Deutschen Grenzverein für Kulturarbeit mit der Büchereizentrale Flensburg. Im Landesteil Holstein war seit 1946 der Verein „Büchereiwesen in Holstein e.V.“ mit Sitz in Rendsburg zuständig. Dazu kam die Landesbüchereistelle als dritte Säule, ebenfalls in Rendsburg.
Einen prägnanten Überblick über die „gewachsenen Strukturen“ des öffentlichen Büchereiwesens bis 1995 gab Dr. Rolf-Peter Carl (Leiter der Kulturabteilung des Bildungsministeriums des Landes von 1991 bis 2006) in „Schleswig-Holstein. Die Kulturzeitschrift für den Norden“ im Sommer 2018:
„Nach dem 1. Weltkrieg und der Volksabstimmung von 1920 in Nord- und Mittelschleswig, die zur Abtretung der Gebiete nördlich von Flensburg führte, hatte sich im Landesteil Schleswig ein Wohlfahrts- und Schulverein – der spätere Deutsche Grenzverein – gegründet, der (u.a.) eine Zentrale für Nordmark-Büchereien in Flensburg unterhielt, die mittels dreiseitiger Verträge mit Städten bzw. Gemeinden und Kreisen die Unterhaltung der öffentlichen Büchereien sicherstellte. Und im Landesteil Holstein sorgte seit 1946 ein Büchereiverein [„Verein Büchereiwesen in Holstein e.V.“, Anm. d. Autorin] auf ähnliche Weise für den Erhalt der Bibliotheken in seinem Gebiet. Die Kriterien und die Höhe der an die angeschlossenen Büchereien gezahlten Zuschüsse waren unterschiedlich. Daneben gab es [seit 1916 in verschiedenen Vorstufen, Anm. d. Autorin] eine Landesbüchereistelle in Rendsburg, die aber keine Zuständigkeit für das gesamte Land entwickeln konnte. Ab 1958 bestand faktisch eine komplette Zweigleisigkeit: eine Landesbüchereistelle Holstein mit der Büchereizentrale des Vereins Büchereiwesen in Holstein in Rendsburg und eine Landesbüchereistelle Schleswig mit der Büchereizentrale des Grenzvereins in Flensburg. Die Annäherung der beiden ‚Gleise‘ kam über eine Personalunion nicht hinaus: seit 1976 wurden die beiden Büchereizentralen und die seit 1969 vereinigte Landesbüchereistelle von einem Direktor geleitet. Aber das Ärgernis der differierenden Förderkriterien und -summen blieb bestehen.“
Dr. Heinz-Jürgen Lorenzen, der 1983 die Leitung aller drei Institutionen übernahm, beschreibt die Situation als „völlige Unzulänglichkeit“: „Leiter der Landesbüchereistelle, Leiter Büchereizentrale Flensburg, Leiter Büchereizentrale Rendsburg, Geschäftsführer Verein Büchereiwesen Holstein – das war die Vielfältigkeit, die ich damals inne hatte. Aber drei verschiedene Zuständigkeiten, drei verschiedene Haushaltsführungen und zwei verschiedene Förderungstöpfe für die Landesmittel.“
Das politische Erbe des Grenzkampfes
Die komplizierten Strukturen lagen in der besonderen Geschichte des Grenzlandes begründet. „Eine Phase, in der das Bibliothekswesen im Landesteil Schleswig noch durch den Grenzkampf bzw. kulturellen Wettbewerb ‚Deutsche gegen Dänen‘ befördert worden ist“, erklärt Dr. Lorenzen die Situation im Land zu Beginn seines Wirkens im Schleswig-Holsteiner Bibliothekswesen. Während die Politik im Landesteil Schleswig noch auf den Gedanken des Grenzkampfes getrimmt war, war dieser im Landesteil Holstein kaum von Relevanz. Hier befanden sich wie üblich die Bibliotheken in der Trägerschaft der Kommunen.
Die Bundespolitik hatte schon in den 1970er Jahren die direkte Förderung der Grenzvereine ans Land übergeben. Spätestens mit dem Regierungswechsel 1988 wurde auch auf Ebene der Landespolitik die Förderung des Grenzlandaktivitäten und -institutionen zurückgefahren. Dies machte sich auch bei den Bibliotheken im Schleswiger Landesteil bemerkbar, die beim Deutschen Grenzverein bzw. der Flensburger Büchereizentrale angesiedelt waren und deren auskömmliche Finanzierung damit unmittelbar von den zurückgehenden Zuschüssen an den Grenzverein abhängig war.
Das Dilemma der ungleichen Entwicklung
Die verschiedenen Strukturen in der Trägerschaft und der Finanzierung der öffentlichen Büchereien führten zu unterschiedlichen Entwicklungen in der Bibliothekslandschaft. Holstein erhielt historisch weniger Landesförderung und musste 1980-1982 weitere Kürzungen hinnehmen. Diese scheinbare Benachteiligung erwies sich langfristig als Vorteil: Die geringeren Landesmittel zwangen die Kommunen seit jeher zu stärkerem eigenem Engagement. Als in den 1980er und 1990er Jahren überall Landesmittel gekürzt wurden, war in Holstein bereits ein System mit mehr kommunaler Verantwortung vorhanden. Die Bibliotheken waren eine etablierte Aufgabe der Standortgemeinden.
Im Landesteil Schleswig hingegen waren keine Systeme etabliert, bei denen die Kommunen sinkende Landesmittel ausglichen. Das als „vorbildlich“ wahrgenommene Büchereiwesen im Landesteil Schleswig stagnierte leise und notwendige bauliche Modernisierungen oder Inneneinrichtungen etwa blieben aus. Auch bei der Büchereizentrale Flensburg wurden Kürzungen kompensiert, indem Stellen nicht nachbesetzt wurden: „Wir waren irgendwann in einer Situation, wo wir ungefähr ein Drittel der Stellen nicht mehr besetzt hatten“, erinnert sich Lorenzen.
Für ihn wurde es deshalb ab Ende der 1980er zur größten Aufgabe, „eine Umwidmung der kommunalen Verantwortung im Landesteil Schleswig herbeizuführen, um in den Städten und Gemeinden zu verankern, dass es bei den Bibliotheken vorrangig um Kultur und Bildung, also eine kommunale Aufgabe geht und nicht mehr so sehr um den kulturellen Wettbewerb zwischen Deutschen und Dänen.“
Der erste Impuls und politischer Rückenwind
Mit dem Rendsburger Bürgermeister Rolf Teucher, der 1990 den Vorsitz im Verein Büchereiwesen in Holstein e.V. übernahm, fand Dr. Lorenzen die nötige Unterstützung und Rückendeckung, um die Umstrukturierung des Büchereiwesens im Landesteil Schleswig in Angriff zu nehmen. 1990 setzte der Landesverband Schleswig-Holstein im Deutschen Bibliotheksverband unter Leitung Teuchers den ersten Impuls mit einem Bibliotheksentwicklungsplan, der als zentrale Forderung die Gründung eines landesweiten Bibliotheksvereins beinhaltete.
Der Holsteiner Verein tagte mit dem Deutschen Grenzverein, erste Verhandlungen gerieten jedoch ins Stocken, erinnerte sich der damals von Ministeriumsseite beteiligte Dr. Rolf-Peter Carl: „Dabei stellte sich schnell heraus, dass der empfohlene gemeinsame Bibliotheksverein keine Chance hatte, akzeptiert zu werden. Unverkennbar war, dass die Angleichung der unterschiedlichen Fördersätze nicht einvernehmlich ausgehandelt werden konnte, sondern politisch entschieden werden musste.“
In der Phase nach dem Regierungswechsel 1988 traf der Plan der Fusion der Strukturen auf einen wohlwollenden Zeitgeist. Das neue Verständnis brachte nicht nur eine hinterfragende Haltung dem Grenzwettbewerbsgedanken gegenüber mit sich, sondern auch eine Skepsis gegenüber traditionellen Strukturen und das Bestreben, Verwaltungen zu verschlanken. Im Herbst 1994 legte das Bildungsministerium Bibliothekspolitische Zielvorstellungen vor, die die Organisations- und Förderungsstrukturen einfacher und transparenter gestalten sollten. Zentrale Forderungen der Regierung war die Schaffung eines übergeordneten Büchereivereins, der die Förderung des Bibliothekswesens in ganz Schleswig-Holstein zur Aufgabe hatte und zentral die Zuschüsse verwalten sollte. Die Höhe der Zuschüsse wiederum sollte in allen Landesteilen gleich ausfallen und sich anhand von Personalstellen und Ausleihvorgängen errechnen.
Die Herausforderungen des Wandels
Die Diskussion dieser Forderungen stellte sich in beiden Landesteilen sehr unterschiedlich dar. Während die vom Ministerium geforderten Strukturen für die Standbibliotheken in Holstein nur wenige Veränderungen bedeuten würden, stellte sich dies für Schleswig anders dar. Besonders die Kommunen und die Büchereien fürchteten ein Absenken der Fördermittel, welches nicht allein Einsparungen, sondern auch eine Neuordnung der Verantwortlichkeiten für die Büchereien nach sich ziehen würde.
So fiel der Unmut im Schleswiger Landesteil laut aus. Etliche Büchereien fürchteten um ihre Existenz, organisierten Unterschriftenaktionen und gingen an die Presse. So fanden sich in den Lokalteilen der Tages- und Wochenzeitungen im Herbst 1994 nicht selten Überschriften wie „Bibliotheken fürchten um ihre Existenz“ (Eckernförder Zeitung, 24.9.1994), „Streichkonzert bringt Büchereien in Gefahr“ (Husumer Nachrichten, 10.10.1994) oder „Das Bibliothekswesen wird in Frage gestellt“ (Flensburger Tageblatt, Kultur Extra, 5.10.1994). Auch die Mitarbeitenden der Büchereizentrale Flensburg blickten mit Sorge auf die geplanten Veränderungen. Frauke Nobereit, die 1995 als Betriebsrätin der Büchereizentrale Flensburg und der Büchereien des Landesteils Schleswig die Verhandlungen miterlebte, erinnert sich an die damalige Situation: „Die zentrale Befürchtung war nicht etwa, dass eine Zusammenlegung unzweckmäßig sei, sondern dass dabei bewährte Standorte und Arbeitsplätze gefährdet werden könnten, zumal einzusparende Gelder wenig Handlungsspielraum ließen.“
Vollendung einer lang angekündigten Entwicklung
Trotz des Protests trug der politische Druck Früchte. Der Deutsche Grenzverein bewegte sich zu einer gemeinsamen Stellungnahme mit dem Verein Büchereiwesen für Holstein und dem Städtebund, die den Überlegungen der Landesregierung zustimmte und damit die Fusion zum zentralen Büchereiverein als Förderinstitution für das schleswig-holsteinische Bibliothekswesen zur Beschlusssache machte.
Neben Ute Erdsieg-Rave und Dr. Rolf Peter Carl vonseiten des Ministeriums sowie Harald Rentsch für den Städtebund und Dr. Schütz bzw. Jörg-Dietrich Kamischke als Vorsitzender des Deutschen Grenzvereins tat sich vor allem Rolf Teucher als zentraler Architekt der Fusion hervor. „Teucher trug letzten Endes das Ganze. Er war sehr stark in der Politik verankert und in den Verhandlungen involviert. Er hat die Dinge intensiv betrieben“, würdigt Dr. Lorenzen dessen Rolle.
Mit der Gründung 1995 wurde vollbracht, was organisatorisch längst überfällig war. Ein Jahr später zählte der Verein 119 Mitglieder: alle Kreise des Landes und alle Träger öffentlicher Standbibliotheken außer denen in kreisfreien Städten. Teucher würdigte 1996 die historische Bedeutung: Der 28. März war „ein Augenblick in der Geschichte des öffentlichen Bibliothekswesens in Schleswig-Holstein, der von vielen seit langem angestrebt war, der als folgerichtig galt und der einzig mögliche Schritt zur Sicherung einer zukunftsorientierten Weiterentwicklung war.“ (Rolf Teucher: Begrüßung und Rede zum 50. Jubiläum des Büchereivereins Schleswig-Holstein e.V. als Rechtsnachfolger des Vereins „Büchereiwesen in Holstein e.V.“ am 2. Oktober 1996, S. 4; veröffentlicht in: MSH 02.10.1996, S. 3ff.)
Die schrittweise Umsetzung und ihre Herausforderungen
Die Umsetzung der Fusion des öffentlichen Büchereiwesens in Schleswig-Holstein erfolgte nach 1995 in mehreren Schritten. Nach der Vereinsgründung 1995 wurden zeitnah die Büchereien des Landesteils Schleswig auf den neuen Verein übertragen. Die Landesbüchereistelle wurde aufgelöst und deren Mitarbeiter zum Büchereiverein übergeleitet.
Intern verlief die Umorganisation der beiden Büchereizentralen an zwei Orten relativ reibungslos. Dr. Lorenzen erinnert sich an diesen gemeinsam mit seiner Stellvertreterin Dr. Golczewski kuratierten Prozess: „Nachdem die Grundsatzentscheidung zur Zusammenführung gefallen war, ging man schnell in die Arbeitsphase über. Abteilungen wurden nun zentral an einem Standort angesiedelt, um unnötige Doppelstrukturen abzubauen. Das konnten wir ganz größtenteils sensibel machen, mit schrittweisen Übergängen, durch Versetzungen in Abteilungen am gleichen Arbeitsort und Nutzung von Ruheständen.“ Der Büchereiverein agierte nunmehr an zwei Orten: aus der Büchereizentrale in der Wrangelstraße in Rendsburg sowie in Flensburg (ab 1999) aus der Büchereizentrale in der Waitzstraße, wo bereits die dazugehörige Landeszentralbibliothek ansässig war.
Damit war die landesweite Förderung des öffentlichen Büchereiwesens erfolgreich in die Hände eines zentralen Vereins überführt worden, der zwei arbeitsteilig agierende Büchereizentralen im Land betrieb. Das Ende der angestoßenen Entwicklungen war damit aber noch nicht erreicht. „Mit der Zusammenführung ist der große und entscheidende Schritt getan worden, aber die Feinarbeit hat noch geraume Zeit gedauert“, reflektiert Dr. Lorenzen.
Ein wichtiger Schritt war die Verankerung der Bibliotheksförderung im Finanzausgleichsgesetz 1999. „Durch die Neugründung des Vereins wurde auch die Akzeptanz geschaffen, dass die Förderung auf sichere Grundlagen gestellt werden musste“, erklärt Dr. Lorenzen. „Es ist Herrn Teucher, Dr. Carl und Herrn Rentsch zu verdanken, dass die Förderung der Büchereien, ähnlich der der Theater, in das Finanzausgleichsgesetz aufgenommen wurde.“
Die Förderung des öffentlichen Bibliothekswesens stand damit auf recht sicheren finanziellen Füßen. Dennoch ist die finanzielle Lage der Büchereien in den Jahrzehnten nach der Vereinsgründung insbesondere auf kommunaler Ebene (Städte, Gemeinden, Kreise) nicht immer rosig gewesen, was abermals vor allem im Landesteil Schleswig, wo der Büchereiverein Träger der Büchereien war, zu Schwierigkeiten führte. „Damit gelangte der Büchereiverein in eine Misere: Wenn die kommunalen finanziellen Mittel knapp wurden, kam aus der kommunalen Politik im Landesteil Schleswig die Auflage: Ihr müsst bei der Bücherei kürzen. Ein Verein, der das Büchereiwesen fördern soll, aber über seine Verwaltungsaufgabe dann in die Situation kommt, kürzen zu müssen, konterkariert sich selber“, begründet Dr. Lorenzen das unabdingbare Vorhaben, die Standbüchereien im Landesteil Schleswig in die kommunale Trägerschaft zu überführen. Dieser Prozess gestaltete sich langwierig und mühsam, und brachte in einigen Fällen in Verbindung mit der kompletten Streichung der Zuschüsse durch den Kreis Schleswig-Flensburg 2011 bittere Kürzungen mit sich. Im Jahr 2015 wurde den restlichen beharrenden Kommunen ein Ultimatum gestellt – entweder übernehmen sie die kommunale Bücherei oder sie würde geschlossen. Dies führte endgültig zur Übernahme auch der letzten Standbüchereien. Aber auch bei schwierigeren Fällen erkennt Dr. Lorenzen mittlerweile Erfolge: „Jetzt sehen wir vielerorts kommunale Anstrengungen, Neubau- und Umgestaltungsprojekte voranzutreiben.“
Die Übertragung der letzten Bibliothek im Schleswiger Landesteil in kommunale Hände im Jahr 2015 vervollständigte die erfolgreiche Vereinheitlichung der Organisation und Förderung des öffentlichen Bibliothekswesens in Schleswig-Holstein – fast. Denn – neben der weiterhin bestehenden teilweisen Parallelstruktur mit den Bibliothekssystemen der kreisfreien Städte – stand noch ein weiterer Schritt aus, den Lorenzen als „eine organisatorische Selbstverständlichkeit“ bezeichnet: Mit der Zusammenlegung beider Büchereizentralen in den neuen Räumlichkeiten in Rendsburg wird nun unter Leitung von Oke Simons und Friederike Sablowski vollendet, was 1995 begonnen wurde. Aus historisch gewachsenen Doppelstrukturen wurde schrittweise ein geeinter Verein für die Förderung des öffentlichen Büchereiwesens in Schleswig-Holstein – ein Prozess, der erst 2025 seinen organisatorischen Abschluss findet.