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Die Idee vom geschlossenen Büchereiorganismus

Grenzbildung durch Bildung: Die Anfänge des schleswig-holsteinischen Büchereiwesens

Nach dem deutsch-dänischen Grenzvotum von 1920 begann im nördlichen Schleswig-Holstein ein einzigartiges Experiment kultureller Infrastruktur. Mit der „Zentrale für Nordmarkbüchereien“ entstand in Flensburg eine Institution, die nicht nur Bücher verteilte, sondern ein ganzes Büchereiwesen formte – als Mittel der Volksbildung und im Dienst nationaler Identität. Die Geschichte ihres Aufbaus ist ein Lehrstück über Bildung, Politik und kulturellen Gestaltungswillen in der Weimarer Republik.

Der Blick auf die Anfänge des heutigen Büchereivereins führt uns über 100 Jahre zurück in den nördlichsten Teil unseres Bundeslandes. 1921 wurde in Flensburg die „Zentrale für Nordmarkbüchereien“ ins Leben gerufen. Ihr Träger war der „Wohlfahrt- und Schulverein für Nordschleswig e.V.“ Die Gründung der Zentrale stand in engem Zusammenhang mit dem Ergebnis der Volksabstimmung von 1920. Eine aktive Volksbildungsarbeit von dänischer Seite in Heimvolkshochschulen und öffentlichen Büchereien hatte wesentlich dazu beigetragen, dass sich der überwiegende Teil der Bevölkerung Nordschleswigs für die Zugehörigkeit zu Dänemark ausgesprochen hatte. Von deutscher Seite wollte man der erfolgreichen dänischen Kulturarbeit nun etwas Eigenes entgegensetzen. Die preußische Regierung stellte zwei Millionen Reichsmark zur Verfügung um das Grenzgebiet mit einem flächendeckenden Netz an Büchereien zu überziehen. Zum Leiter der Zentrale wählte ein prominent besetzter 18-köpfiger Wahlausschuss den jungen, aus Rendsburg stammenden Bibliothekar Franz Schriewer, Doktor der Philosophie und bis dato wissenschaftliche Hilfskraft in der Stadtbücherei Stettin.

Die geplante Zentrale erfreute sich sowohl im Grenzgebiet als auch überregional und in der bibliothekarischen Fachwelt großen Interesses. Sie war die erste der nach 1918 in den Grenzgebieten mit staatlicher Hilfe gegründeten Beratungsstellen und sie fiel mitten in die Zeit der Auseinandersetzungen um den richtigen Kurs der Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik. Die „neue“ Richtung um den Bibliothekar Walter Hofman forderte eine „intensive“ Bildungsarbeit vom Individuum aus und warf der „alten“ Richtung um Erwin Ackerknecht, dem Leiter der Stettiner Stadtbücherei, ihre „verbreitende“ Arbeit vor. Beide Richtungen hatten jedoch die gemeinsame Intention, in der weltanschaulich, sozial und politisch stark gespaltenen Weimarer Republik über die Volksbildung zur „Volkbildung“ beizutragen. In Schleswig-Holstein lag wie in allen Grenzgebieten der Fokus auf der nationalen Aufgabe der Festigung deutscher Sprache und Kultur.

Der Weg zur Büchereilandschaft Schleswig

Der Wohlfahrts- und Schulverein erteilte dem frischgewählten Bibliothekar den Auftrag, die Zentrale für Nordmarkbüchereien einzurichten und das Grenzgebiet mit einem Netz von Standbüchereien zu überziehen. Die einzelnen Büchereien sollten künftig nicht isoliert voneinander arbeiten, sondern in enger organisatorischer Verbindung stehen, erstrebt wurde „ein geschlossener Büchereiorganismus“, der von der Dorfbücherei über die Kleinstadtbücherei bis zur Zentralbücherei in Flensburg führen sollte.

Schriewer begann mit dem kleinsten Glied der Kette, der Dorfbücherei. Durch rege Vortragstätigkeit u.a. auf Lehrerkonferenzen gewann er Gemeinden für die Büchereiidee und Lehrer als ehrenamtliche Büchereileiter. War in einem Dorf die Gemeinde oder ein Verein als Träger der Bücherei gefunden, lieferte die Zentrale en bloc einen sorgfältig von ihrem Leiter ausgewählten und ausleihfertig ausgestatteten Bestand von 200 – 300 Bänden. Für eine adäquate Unterbringung sorgte ein von Schriewer selbst entworfener, meist vom örtlichen Tischler gefertigter Dorfbüchereischrank. Hier wurde der Bestand übersichtlich aufgestellt, die einzelnen Abteilungen – Schöne Literatur, Plattdeutsches, Heimatliteratur, Naturkunde, Geschichte u.a. – sorgfältig getrennt. Ein kleines Extrafach enthielt die Ausleihmaterialien. Bis auf wenige weiße Flecken war der Aufbau des Dorfbüchereiwesens 1923/24 abgeschlossen.

Nach Schriewers Plänen getischlerte Dorfbüchereischränke beherrschten bis zur Auflösung der Dorfbüchereien in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts das Bild des ländlichen Büchereiwesens im Grenzgebiet.

Ab 1923 führte die Zentrale erste Verhandlungen mit einigen kleineren Städten im Landesteil Schleswig, 1924 arbeiteten bereits acht Städte mit ihr zusammen. Die Kleinstadtbüchereien wurden zu einem eigenen Büchereitypus, der Hauptbücherei, ausgebaut. Mit einem durchschnittlichen Bestand von 1.500 Bänden für eine Einwohnerzahl von zwei- bis dreitausend Einwohnern sollten sie auch Vorbild und Stützpunkt der Dorfbüchereien sein und als Mittelglied die geistige wie organisatorische Verbindung zur Zentrale herstellen. Ein Vertrag zwischen Wohlfahrts- und Schulverein regelte ihre Finanzierung, Zusammenarbeit mit der Zentrale und ihre Ausstattung. Wenn eben möglich wurde die Bücherei in einem eigenen, zentral gelegenen Raum untergebracht. Dieser war idealerweise nach dem von Schriewer entworfenen Einrichtungskonzept für Hauptbüchereien eingerichtet: eine entsprechend den Arbeitsvorgängen bei der Ausleihe – Buchrückgabe, Leserberatung und Buchausleihe – dreigeteilte Theke teilte den Raum in zwei Bereiche, hinter der Theke befanden sich der systematisch aufgestellte Bestand und die bibliothekarischen Arbeitsplätze, vor der Theke der Katalog mit genügend Platz für die Leserinnen und Leser, außerdem Sitzgelegenheiten und eine Garderobe. Wie die Dorfbüchereien wurden die Hauptbüchereien ehrenamtlich geleitet, auch hier meist von einem Lehrer.

Zur Sicherung der Finanzierung schlossen Wohlfahrts- und Schulverein, Standortgemeinde und Landkreis einen privatrechtlichen Vertrag. In ihm war vereinbart, dass jeder der drei Partner jeweils ein Drittel der anfallenden Kosten übernahm, eine Regelung, mit der sich die Beteiligten selbst in die Pflicht nahmen. Sie bewahrte die schleswigschen Büchereien noch Jahrzehnte vor willkürlichen Etatkürzungen. Zudem stellte der Vertrag sicher, dass die Bücherei nach den Vorstellungen der Zentrale eingerichtet und geführt wurde.
Ab 1925 unterhielt der Wohlfahrts- und Schulverein im grenznahen Norden der Stadt Flensburg die öffentliche Bücherei Neustadt. Sie war ganz nach den Vorstellungen der Zentrale konzipiert und als Modellbücherei für die Kleinstadtbüchereien gedacht. Erfahrungen im Bestandsaufbau, seiner Vermittlung und der Ausleihtechnik wurden hier gesammelt und für das Büchereisystem fruchtbar gemacht.

1927/28 war die Entwicklung so weit vorangeschritten, dass die öffentlichen Büchereien der schleswigschen Kleinstädte aufgrund feststehender Etats, regelmäßigen Wachstums und einer engen Zusammenarbeit mit der Zentrale weitgehend als aufgebaut und gesichert gelten konnte. Als Tüpfelchen auf dem i erfolgte 1928/29 die Einrichtung des Leihverkehrs zwischen der Zentrale und der ihr angeschlossenen Kleinstadtbüchereien.

Die Dienstleistungen der Zentrale für Nordmarkbüchereien

Die Arbeit der Zentrale für Nordmarkbüchereien ging weit über die einer Beratungsstelle hinaus. Als wichtigste Pflicht definierte Franz Schriewer die Übernahme der „geistigen Führung“ im Betreuungsgebiet. Maßnahmen um diese Aufgabe zu erfüllen, waren die Durchführung von Lehrgängen, die Übernahme der Buchauswahl und Buchkritik, der Bestandsaufbau und seine Erschließung durch die Zentrale und die Herausgabe einer eigenen Schriftenreihe unter dem Titel „Arbeit am Volkstum“.

Es wurden regelmäßig Fortbildungen durchgeführt, um die ehrenamtlich tätigen Lehrer und Hilfskräfte mit Büchereiarbeit vertraut zu machen und um eine einheitliche Grundkonzeption sowie Auffassung vom Wesen und Ziel der Bildungsarbeit mit dem Buch durchzusetzen. Dem gestuften Büchereisystem entsprach ein gestuftes Lehrgangssystem: Einführungslehrgänge für neue Büchereileiter, anschließend aufbauende Kurse für Dorfbüchereileiter und regelmäßige Tagungen für die Leiter der Kleinstadtbüchereien. Fortbildungen zu literaturpädagogischen, büchereipraktischen und bibliothekspolitischen Themen erweiterten nach und nach das Programm.

Die Auswahl der Bücher, die in den schleswigschen Büchereien bereitgestellt wurden, erfolgte durch die Zentrale bzw. ihren Leiter, der die Ansicht vertrat, dass Buchauswahl und Buchkritik von einem wissenschaftlich vorgebildeten Bibliothekar vorgenommen werden sollten. Als Beratungs- und weitere Anschaffungshilfe gab die Zentrale umfangreiche Besprechungsverzeichnisse heraus. Der erste „Besprechungskatalog für die Grenzbüchereien“ erschien bereits 1922.

Die Zentrale organisierte den Leihverkehr, führte die Haushalte der ihr angeschlossenen Büchereien, kaufte die Bücher zentral ein, stattete sie ausleihfertig aus, mit Büchereieinband und einheitlich blauem Schutzumschlag. Als „de blauen Bökers“ waren die Titel aus der Bücherei schnell im ganzen Land bekannt und trugen mit zur Verankerung des Büchereigedankens in der Bevölkerung bei.

Der Büchereiflügel des Deutschen Hauses

Am 27.9.1930 wurde in der Stadt Flensburg das Deutsche Haus eingeweiht. Als „Reichsdank deutscher Treue“ der Flensburger Bevölkerung vom Deutschen Reich für den deutschen Abstimmungserfolg in Flensburg 1920 geschenkt, sollte hier ein den besonderen kulturpolitischen Aufgaben der Grenzstadt würdiges Kultur- und Versammlungszentrum entstehen. Im Obergeschoß des angegliederten Büchereiflügels fand die Zentrale für Nordmarkbüchereien ein neues Domizil. Mit dem Umzug ins Deutsche Haus war der Aufbau des Grenzbüchereiwesens abgeschlossen. Im Landesteil Schleswig existierte nun in der Sprache der Zeit ausgedrückt „ein geschlossener Büchereiorganismus“ mit klarer vertikaler Gliederung, wobei zwischen Dorf- und Hauptbücherei, der Zentralbücherei (öffentliche Bücherei Neustadt) und der Zentrale eine enge organisatorische und geistige Verbindung bestand.

 

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