Ursprünglich wollte er Maler werden. Sein Weg führte ihn über die Illustration in die Welt der Literatur. Als Autor, Illustrator und freier Künstler wandert Manfred Schlüter heute zwischen Welten, die für ihn untrennbar zusammengehören. Sein 70. Geburtstag wird 2023 in Marne und Glückstadt mit Ausstellungen gefeiert. Für uns hält der Wanderer inne und wirft einen Blick zurück auf seinen bisherigen Weg.
Das Blatt Papier, noch unbeschrieben,
wäre gern so weiß geblieben,
geriet jedoch in meine Hände –
und mit der Weißheit war’s zu Ende.
Diese vier Zeilen (geschrieben in den 1990er Jahren) könnten als Motto über meinem Leben stehen. Schon früh war ich in der Welt der Bilder zu Hause. Hab mit Stiften, Pinseln und Farben dem Papier das Weiß geraubt, hab mich in den Kunstbüchern meines Vaters verloren, in den Werken von Rembrandt, Leonardo da Vinci und anderen. Manche Bilder wurden begleitet. Von Geschichten, Gedichten. Ich sehe mich auf dem Schoß meines Opas, hab noch das schwere rote Buch vor Augen und höre die Verse von Wilhelm Busch: Max und Moritz, Fipps der Affe, Hans Huckebein, Maler Klecksel …
Das Lesen fiel mir anfangs schwer. Ich liebte Tim und Struppi, Fix und Foxi, Micky Maus und Donald Duck. Diese Bildergeschichten haben mir geholfen, mich mit Buchstaben, Wörtern, Sätzen anzufreunden. Später kam ich ohne Bilder aus. War mit Winnetou und Kara ben Nemsi unterwegs. Hab Moby Dick gelesen, Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Allerdings nur jene für die Jugend gekürzten Ausgaben, wie mir Jahrzehnte später bewusst wurde, als ich die wahren Texte verschlang.
Ich wollte Maler werden, freier Künstler. Eigentlich. Studierte aber Grafikdesign. Werbegrafik. In Hamburg. Besuchte damals – in den 1970er Jahren – immer wieder die großen Bibliotheken der Stadt und lieh Kunstbücher aus. War von Max Ernst fasziniert, von René Magritte und Salvador Dali, von Paul Klee und Pablo Picasso. Von den Surrealisten.




Nicht wenige dieser Künstler waren auch schriftstellerisch tätig. Oder fanden Bildtitel, die literarisch anmuten. Ich denke – beispielsweise – an „Die Zwitscher-Maschine“ von Paul Klee. An die „Rückkehr der schönen Gärtnerin“ oder „Sie sind zu lange im Wald geblieben“ von Max Ernst. Er, der große Maler, Grafiker und Bildhauer, „schrieb“ auch Romane. Mit der Schere und den Mitteln der Collage: „La femme 100 têtes“, „Une semaine de bonté“. Und Pablo Picasso war nicht nur ein besessener und vielseitiger Bildender Künstler, er verfasste zudem Gedichte und trat als Dramatiker in Erscheinung. „Le Désir attrapé par la queue“, eines seiner Stücke, wurde von Paul Celan ins Deutsche übertragen: „Wie man Wünsche beim Schwanz packt“. Durch die Auseinandersetzung mit Leben und Werk von Max Ernst entdeckte ich schließlich Paul Éluard, den französischen Lyriker und Freund von Dadamax.
In seinen Gedichtbänden – „Hauptstadt der Schmerzen“ (Karl H. Henssel Verlag, 1983) und „Schwestern der Hoffnung“ (dtv 1973) – hab ich eine Zeit lang nach Titeln für meine Bilder gesucht:
Ohne den steinernen Schlaf zu verlassen
Und dein Leib geht schneller als deine Gedanken
Die Texte von Paul Éluard haben mich in die Welt der Gedichte gelockt. Haben mich irgendwann selbst Gedichte schreiben lassen, die ich meinen Bildern als Titel an die Seite gestellt habe. Ein Beispiel:
Wenn in sterbenden Wäldern
der Dunst des neuen Tages sich verfängt
und im Wirrwarr der Zweige die Zukunft verdorrt,
wenn die letzten Strahlen einer fremden Sonne
zu Boden schmelzen
und dort blutrote Pfützen bilden,
wenn in euren Bäuchen alles Leben erstickt,
wenn alles zu stürzen beginnt,
dann wecke mich! –
Wird die Nacht jemals die Wunden des Tages
heilen können?
Einem anderen Werk hab ich folgenden Titel geschenkt:
… wird ein warmer Regen all das Gift aus deinen Wunden spülen
Der Kieler Dichter Christian Saalberg (1926-2006) schrieb mir am 4. Dezember 1979: „Es ist ein Bild, worin man sich verlieren kann, wie überhaupt Ihre Bilder ein Wald sind, den man leicht betreten kann, dann aber nur schwer wieder herausfindet“. Und er fragte, ob er es als Covermotiv für seinen neuen Gedichtband nutzen dürfe: „Königin der Schrecken“ (Glock und Lutz Verlag 1980). In einem der darin enthaltenen Texte hat er mit meinem Bildtitel gespielt. „Ihr schöner Vers hat mich inspiriert und ist ins Wuchern geraten“. Später schrieb er mir ins Buch: „Für Manfred Schlüter, dem ich die schöne Zeichnung und den schönsten Vers (S. 16) verdanke!“
Etwa zeitgleich – ich war mittlerweile als freiberuflicher Werbegrafiker tätig – fasste ich den Entschluss, mich von dieser ungeliebten Brotarbeit zu verabschieden. Ich brachte meine Schreibmaschine zum Glühen und schickte Bewerbungen in die Welt. Mein Traum war es, Buchumschläge zu gestalten, vielleicht die eine oder andere Illustration zu fertigen. Von den fünfzig angeschriebenen Verlagen haben fünfzehn geantwortet. Immerhin. Sachlich, freundlich, ablehnend. Und nun?
Ende der 1970er Jahre kam es zu einer folgenschweren Begegnung. Ich lernte Boy Lornsen (1922-1995) kennen, den Schöpfer von „Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt“. Zufällig. Er hat mir die Tür zur Bücherwelt weit aufgestoßen. Hat den Stuttgarter Thienemann Verlag auf mich aufmerksam gemacht. Ich durfte eine Übersetzung aus dem Finnischen illustrieren: „König Tulle“ von Irmelin Sandmann Lilius (Thienemann Verlag 1980). Mein erstes Buch mit eigenen Illustrationen! Und dann begann eine intensive Zusammenarbeit mit Boy Lornsen. Boy schrieb damals an seinem Störtebeker-Roman. Wir trafen uns häufiger. Er erzählte und las vor. Mit dieser Stimme, die sich anhörte, wie wenn der starke Ast eines Baumes im Sturmwind knarrte.