Sie recherchiert in Archiven und Gerichtssälen, spürt Zeitzeugen auf und vereint Stückentwicklung mit klassischer Regiearbeit. Ihr Dokumentarstück LebensWert am Theater Kiel beschäftigt sich mit NS-Euthanasie in Schleswig-Holstein. Im Gespräch mit Kristof Warda erzählt die Regisseurin Marie Schwesinger, was sie zum dokumentarischen Theater brachte, wie aus einem Berg an recherchiertem Material ein Theaterstück entsteht und auf welche Weise sich Täterstrukturen aus der NS-Zeit bis heute fortpflanzen.
Marie, Du hast zuerst in Hildesheim und anschließend in Frankfurt am Main studiert, hast Hospitanzen und Assistenzen an verschiedenen Theatern gemacht und diverse eigene Regiearbeiten verwirklicht. Seit 2019 arbeitest Du als freie Regisseurin …
Genau! Der beste Zeitpunkt freischaffend tätig zu werden, ein halbes Jahr vor dem Lockdown (lacht).
Wie bist Du zum Theater gekommen und was hat Dich bewogen, Regie zu studieren?
Ich komme aus Hamburg und bin über die Jugendclubs der dortigen Theater sozialisiert worden. Zuerst wollte ich Schauspiel studieren und habe einige Male vorgesprochen, doch dabei habe ich schnell gemerkt, dass das nichts für mich ist.
Ich habe mir immer sehr viel mehr Gedanken darüber gemacht, wie das, was ich spiele, wohl von außen aussieht, anstatt den inneren Weg in die Rolle zu gehen. Als ich das festgestellt hatte, nach acht, neun Schauspielvorsprechen, war mir klar, dass es in Richtung Regie gehen sollte. Aber ich wollte nicht direkt weitermachen in dieser Vorsprechmühle an den Regieschulen, wo es noch weniger Plätze zu vergeben gibt als beim Schauspiel. Ich habe mich dann in Leipzig für Dramaturgie und in Hildesheim beworben …
Das Institut für Theater und Medien an der Universität Hildesheim verfolgt über die Betrachtung der klassischen Kulturinstitutionen hinaus einen transdisziplinären Ansatz und verbindet in Forschung und Lehre die Theorie mit Praxis. Dafür ist es bundesweit bekannt …
Ja, mir hatten mehrere Leute vom Studium der szenischen Künste in Hildesheim erzählt und schließlich habe ich mich dafür entschieden. Im Hauptfach habe ich angewandte Theaterwissenschaften, in den Nebenfächern angewandte Medien- und Literaturwissenschaften studiert. Im Studium ging es um den kollektiven Prozess, das Entwickeln von Ideen aus dem Team heraus, es ging mehr um Performancekunst als um Schauspielertheater, um interdisziplinäre Formen und so weiter. Dabei habe ich gemerkt, dass die Vorstellung von dem, was ich machen möchte, doch etwas anders ist. Trotzdem: Ich glaube, meine Arbeitsweise heute ist durch das Studium in Hildesheim beeinflusst.
Im Anschluss bist Du an ein Staatstheater gegangen …
Ja, ich habe eine Spielzeit lang als Regieassistentin am Oldenburgischen Staatstheater gearbeitet. Der damalige Chefdramaturg Jörg Vorhaben hat mir den ehrlichen Tipp gegeben: Mit meinem Hildesheimer Studium der Theaterwissenschaften würde ich es schwer haben, ein Stadt- oder Staatstheater davon zu überzeugen, mir einen Regieauftrag zu geben. Das gab für mich den Ausschlag, doch noch ein Regiestudium zu beginnen. Ich war damals 26 und hatte eigentlich meine Zweifel, ob ich nochmal ein vierjähriges Bachelorstudium absolvieren wollte … Als aber die Zusage aus Frankfurt kam, waren die Zweifel wie weggeblasen.
Wie unterschied sich das Studium in Frankfurt von dem in Hildesheim?
Ich habe in Hildesheim gelernt, wie Ideen kollektiv entstehen können und wie ein kollektiver kreativer Prozess funktioniert. In Frankfurt ging es eher um die klassische, hierarchische Regiearbeit. Ich hatte einige Lehrende, die der Überzeugung waren, dass die Regie ein Stück besser kennen müsse als alle anderen, die Rollen besser kennen müsse als die Schauspieler*innen, auf alle Eventualitäten, für alle Fragen vorbereitet sein müsse. Das hat einen enormen Druck erzeugt. Das war schon sehr anders als in Hildesheim. Der Ideenaustausch unter den Studierenden in Frankfurt hat mir aber sehr gefallen. In den ersten Semestern waren die Studienprojekte vorgegeben – ein Klassiker mit gebundener Sprache musste mindestens dabei sein. Meiner war Maß für Maß von William Shakespeare. Später konnte man freier entscheiden.
Ich habe mich sehr für moderne, zeitgenössische Dramatik interessiert und ich glaube, das ist – neben Dokumentartheater – immer noch meins! 2016 habe ich Reiher von Simon Stephens inszeniert, 2017 Schwarzes Tier Traurigkeit von Anja Hilling. Aber es würde mich auch sehr reizen, mich irgendwann einmal mit einer antiken Tragödie zu beschäftigen.
Und wann kam Deine Hinwendung zum dokumentarischen Theater?
Statt eines vierten Studienjahres an der Hochschule hatte ich 2017 die Chance, im Rahmen des „Studienjahres Regie“ als Regieassistentin ans Schauspiel Frankfurt zu gehen. Mit den anderen Assistent:innen habe ich lange für eine eigene Produktion kämpfen müssen. Schließlich durften wir in der „Box“, der kleinsten Spielstätte, eigene Projekte entwickeln, unter der Bedingung, dass sie zum Spielzeitthema das Hauses passten: Das war 2018/19 „Umbrüche. Wie sind wir geworden was wir sind?“, und man setzte sich mit der Stadtgeschichte auseinander. Wir bekamen eine Liste mit verschiedenen Themen. Zum Beispiel die Frankfurter Poetik-Vorlesungen von Christa Wolf, die Demos gegen die Startbahn West Anfang der 1980er Jahre oder die Frankfurter Auschwitz-Prozesse. Die interessierten mich sehr. Ich hatte kurz vorher den Film Im Labyrinth des Schweigens gesehen, in dem es um die Vorgeschichte der Prozesse geht. Zuerst hatte ich allerdings meine Zweifel, ob das Thema nicht viel zu groß für die kleine Bühne und den begrenzten Zeitrahmen von einer Stunde war. Also habe ich erstmal noch über alternative Themen nachgedacht, aber ich kam immer wieder auf die Prozesse zurück und so habe ich mich schließlich dafür entschieden. Ich habe mich also hingesetzt, drei Monate lang, immer nach den Proben und über die Sommerpause, und habe mich in das Thema reingelesen.
Mehr über Marie Schwesinger erfahren Sie auf ihrer Website.