Köpfe der Kunst

Ute Boeters, Selbstportrait, 2019

Durch einen Schicksalsschlag kam Ute Boeters zur Fotografie und machte sie gegen alle Widerstände zu ihrem Beruf. Seit mehr als 40 Jahren ist ihr Fotoatelier in Kiel die Adresse für Künstlerinnen und Künstler im Land. Für ein Ausstellungsprojekt hat sie ihr Archiv gesichtet.

Die Fotografie wurde erst spät zu meinem Beruf: Nach einem unverschuldeten Autounfall 1973 brauchte es ein paar Jahre, bis ich von zwei Stöcken weg und wieder auf die Beine oder besser auf die Füße kam.

Ich nahm mir Zeit für mich selber und tastete meine verbliebenen Möglichkeiten ab, um mir einen neuen Lebensentwurf zu bauen. In zwei erlernten Berufen – Tanz-, Sport- und Gymnastiklehrerin (Ellen Cleve) und Krankengymnastik (Lubinus) – war ich durch den Unfall berufsunfähig geworden.

Mein Körper ließ nicht mehr zu, als Lehrkraft für gesamtmusischen Unterricht, Kunst und Tanz, Gymnastik, Sport und Physiotherapie in ein Konzept zu bringen. Träumen nicht nachtrauern. Lernen, mit den Händen auf dem Rücken zuzuschauen, wie meine Bilder und Farben in die Mülltonne gebracht werden.

Das patriarchale Rollenverständnis damals wurde stark irritiert, wenn man sich als Frau und noch dazu als Mutter mit Selbstverwirklichung und Kunst und Philosophie die Zeit vertrieb. Gedanken darüber wurden schnell in die Grenzbereiche zwischen Kunst und Krankheit verwiesen; sie gehörten nicht zu den Themen, die für die Karriere eines männlichen Partners förderlich waren. Die damals in den 1970er Jahren erstarkende Bewegung der Frauenemanzipation gab mir am Ende auch den Schub zur erfolgreichen Auseinandersetzung mit überholten Klischees über den Platz der Frauen in der Gesellschaft, in Beruf und Familie.

Fotos von meiner Familie entwickelte ich unter den damaligen häuslichen Umständen in der Küche und vergrößerte die Negative im Keller in der eigenen Dunkelkammer, die ich mit 12 Jahren bekam. Mein Vater schenkte mir damals auch seine Rolleiflex 4×4, die nicht der Wehrmacht ausgeliefert werden sollte; denn er hatte sie im Garten vergraben. In den 1970ern hatte ich mir selbst beigebracht, auch farbige Negative zu vergrößern.

Ein Gast der Familie, der neue Theaterregisseur in Kiel, bat mich, Fotos für das Programmheft zu machen. Ihm war es wichtig, dass dafür die Schauspieler*innen bei seinen Proben auf der Bühne fotografiert werden. Diese Tätigkeiten ließen sich vor der Familie rechtfertigen als lukrativ und nützlich – es gab Freikarten. Eine noble Geste eines kreativen Auftraggebers. Schauspieler*innen haben mich zu sich nach Hause zu Festen eingeladen. Es entstanden Freundschaften. Wenn sich für mich selbst auch kein „Künstlerleben“ ergeben hat, so konnte ich doch jetzt ein Gefühl davon erleben, wie es wohl ausgesehen hätte, wenn ich …

Die ersten Künstlerportraits habe ich etwa am Ende der 1970er Jahre gemacht.

Tina Schwichtenberg habe ich im vergangenen Jahr zum ersten Mal porträtiert. Am Abend vorher habe ich mir noch zur Vorbereitung eine alte Folge von „Lass mal schnacken“ angeschaut, der Talkshow auf dem Offenen Kanal Kiel, bei der sie zu Gast war. Sie erzählt darin sehr eindrucksvoll und offen über die Zeit, als sie und ihr späterer Ehemann Rolf Johanning sich näherkamen. Mir wurde klar – irgendwie muss er mit drauf. Aber wie? Am nächsten Morgen, noch bevor ich die Augen aufmachte, sah ich das Bild vor mir!

Voller Neugierde, aber auch ein wenig beklommen, habe ich die bildenden Künstlerinnen besucht und angeboten, Portraits zu machen. Schnell kamen Aufträge für Druckvorlagen für Katalogfotos. Portraitfotos wurden von den Kunstkritikern für Ausstellungsberichte in den „Kieler Nachrichten“ gebraucht. Später schrieb ich selber Kunstkritiken mit Fotos für die „Kieler Rundschau“. Als Gegenwert gab es nicht nur Bildhonorare und Zeilenhonorare; es wuchs auch meine Kunstsammlung mit Siebdrucken und Radierungen mit persönlichen Widmungen. Ein Schatz in meinen Schubladen, ermutigend für meinen weiteren Weg. 1979 wurde ich von der Jury in den Bundesverband Bildender Künstler (BBK) aufgenommen und gleich mit zwei Fotos in die Landesschau gehängt. Ich bekam den Auftrag, Fotos zu machen zur Dokumentation der Aktion „Künstler arbeiten in Betrieben“ 1980. Die Fotos füllten den ganzen Brunswiker Pavillon. 1980 löste ich meine Ehe auf. 1981 kaufte ich für mich und meine Töchter, 15 und 17 Jahre alt, von der kapitalisierten Rente für meine Berufsunfähigkeit das Haus in der Beselerallee 46, eine Villa aus dem Ende des 19. Jahrhunderts mit einem großzügigen Garten. Die bunte Wetterhenne mit Kleid und Halskette auf dem Dach des Turms ist weithin bekannt und schon ein Wahrzeichen in der Kieler Stadtsilhouette geworden – für das Fotoatelier Ute Boeters. Ich machte Fotos für Ausstellungen, einen großen Bildband von Kiel, Fotos für das Freilichtmuseum. Ich war freie Mitarbeiterin bei der Kieler Rundschau und bei der Bildzeitung. So viel Erfolg einer Autodidaktin auf breiter Ebene rief die ordnungshütenden Geister auf den Plan: 1983 spürten die anderen Fotografenmeister in Kiel meine Konkurrenz und alarmierten die Handwerkskammer. Ich bekam eine Abmahnung, entweder meinen Laden zu schließen, einen Meister einzustellen, oder selbst eine dreijährige Lehre zu machen und nach fünf Jahren Gesellenzeit die Meisterprüfung abzulegen. Also besuchte ich die Meisterschule in Hamburg, fuhr mit dem Auto quasi einmal um die Erde und gab dafür 50.000 DM aus. Ich bestand die Meisterprüfung. Im selben Jahr stellte ich zwei Lehrlinge ein und baute in meinem Haus große Labore. Bis 2009 bildete ich 23 Lehrlinge aus. Viele blieben bei mir als Gesellen und die ersten fünf als Meister. Bis die Meisterprüfung abgeschafft wurde. Zurück zum Thema. 2010 war ich zusammen mit der Malerin Barbara Arens an der Ausstellung „Frauenleben“ im Kieler Stadtkloster beteiligt, mit Vergleichsportraits in einem Zeitraum von 23 Jahren. 2019 entstanden im Hinblick auf die geplante Ausstellung in der Galerie für Aktuelle Kunst neue Fotos von Künstlern und Künstlerinnen, die ich schon vor 40 Jahren aufgenommen hatte. Der Unterschied in der Herangehensweise an meine Modelle damals vor 40 Jahren und heute wirft eine Frage auf, die grundsätzlich eine Frage an die Fotografie ist. Das Spektrum der Antworten reicht von bloßer Dokumentation bis zu künstlerischer Inszenierung und Gestaltung mit Photoshop. Damals waren mir die Künstlerinnen persönlich noch nicht so bekannt. Ich selber war ja auf der Suche; etwas wie einen fiktiven Lebensentwurf zu fassen zu bekommen.

Als ich an der Muthesius-Schule war, hatte ich auch Kurse bei Gottfried Brockmann. Er hat seine Studentinnen und Studenten regelmäßig bei sich zu Hause zum gemeinsamen Essen eingeladen und die Zutaten vorher auf dem Wochenmarkt besorgt. Mir war klar, dass ich ihn dort fotografieren musste!

Ich habe dokumentiert, was ich sah. Aber wird nicht auch eine dokumentarische Fotografie zu einer Inszenierung, sobald ich mich als Person einbringe? Sobald ich mir für die Antworten auf meine Fragen als Beobachterin eine Sprache auswähle, die viele Vokabeln als Werkzeuge hat, um eine Geschichte zu erzählen? Es sind die gleichen in der Kunst wie in der Fotografie. (Wobei die Verweigerung, Fotografie als Kunst einzustufen, hauptsächlich nur noch vom Finanzamt aufrechterhalten wird.)

Die Kriterien sind:

  • Raumaufteilung im Bild Verhältnis von Figur zum Raum
  • Inszenierte Körpersprache
  • Interaktion mit Fotografin Blickkontakt mit Betrachterin
  • Arrangement der Gegenstände
  • Gestaltung des Lichts
  • Standpunkt der Kamera

Heute sind mir die Künstler*innen vertraut. Ich habe sie auf Ausstellungen beobachten können. Ich bin ihnen persönlich begegnet und habe von ihnen und ihren Arbeiten Fotos gemacht. Das macht es mir keineswegs leichter. Zumal wenn ich die Spuren all der vielen Jahre als biografische Lebenslinien nun auch noch in meine Fotos packen sollte. Wird es mir gelingen, wieder wie damals, ganz leer und neugierig zu sein? Ich will mich auf alles einlassen, was über das oberflächlich Offensichtliche hinaus sich mir von selber schenkt. Meine Themen und mein Umgang damit ergeben sich aus meinem weiblichen Erfahrungsbereich: hingebungsvolles, geduldiges Warten auf den Augenblick des Gleichgewichts. Die „objektive Realität“ gibt es in der Fotografie nicht; Der*die Betrachter*in ist immer Teil der Wirklichkeit und Schöpfer*in der Wirklichkeit.

Harald Duwe bat mich öfter, seine Werke für Kataloge zu fotografieren – mal bei sich zu Hause in Großensee (bei einem meiner Besuche entstand auch ein Portrait von seiner Frau Heilwig Duwe-Ploog, die selber Künstlerin ist und die ich im letzten Jahr noch einmal besucht und porträtiert habe). In Kiel zeigte er mir – er war ja Lehrer an der Mu-Schule – Arbeiten seiner Student*innen, und fing an, sie zu analysieren und zu beurteilen. Er brauchte dafür offenbar ein Gegenüber, dem er das alles laut erzählen konnte. Ich musste nichts machen – außer bei seinen Selbstgesprächen zuhören. Auf dem Boden seines Ateliers hatte er einen Perserteppich. Es ist absolut faszinierend, dass er ihn nie mit Farbe bekleckert hat.

Die digitale Fotografie brachte eine vollkommene Umstrukturierung fotografischer Gewohnheiten und Abläufe in Arbeitstechniken und auch in der bildnerischen und künstlerischen Konzeption. Die tägliche Arbeit jetzt ist nur noch digital. Aber schwarzweiße und farbige Handabzüge aus der eigenen Dunkelkammer von den wichtigsten Negativen werden wie Schätze gehütet. So wurden alte Negative eigens für die Ausstellung digitalisiert, dass damit in etlichen Fällen historische Portraitaufnahmen von Künstlerinnen und Künstlern neueren Fotos von ihnen ergänzend gegenübergestellt werden können. Durch das Ausstellungsprojekt Köpfe der Kunst – Portraitfotografien von Ute Boeters 1977 – 2021 in der Galerie für Aktuelle Kunst von Gisella Reime in Achterwehr wird die Einzigartigkeit meines Archivs mit charakterisierenden Portraitaufnahmen von Kunstschaffenden in Schleswig-Holstein erst sichtbar werden. Die Ausstellung wird voraussichtlich im Frühjahr 2022 für Besucher*innen öffnen.

Ute Boeters
Redigiert von Bärbel Manitz