Samstag, 27. April 2024

Reisetagebuch einer Fahrradtour durch Stormarn

KulturzeitschriftReisetagebuch einer Fahrradtour durch Stormarn

Stormarn. Nirgendwo bin ich öfter Rad gefahren als hier in der Gegend. Auch als ich schon in Hamburg wohnte und später in Kiel. Es ist schön hier zu fahren. Und noch entscheidender: Mein Vater wohnt hier und er besitzt jedes Fahrradwissen und -werkzeug, das ich je brauchte. Auch heute bin ich mit ihm unterwegs. Er hat uns die Tour zurechtgelegt und ist sie zur Probe auch mit meiner kleinen Schwester schon gefahren. Radfahren liegt bei uns in der Familie. Unser Vater hat es dort hineingelegt. Eigentlich nicht unbedingt das Radfahren, sondern vor allem die Fahrräder selbst.
Wenn wir unseren Vater besuchen, müssen wir aufpassen, das Haus nicht aus Versehen mit noch einem weiteren Fahrrad zu verlassen. Auch wenn unser Vater gerade kein Fahrrad braucht oder sucht, die Fahrräder finden ihn und dann nisten sie sich bei ihm ein. In aufbewahrten Einzelteilen, in Bastelprojekten und manchmal auch in fahrtüchtigem Zustand.
Fahrräder, so habe ich es schon als Kind gelernt, kann man nicht nur fahren. Man kann sie auch einfach besitzen. Mit ihnen lassen sich Keller- und Wohnräume füllen. Fahrräder sind Möbelstück und Inneneinrichtung. Sie sind Knobel- und Geschicklichkeitsspiel, wenn man versucht, ein Problem zu finden. Sie sind Leinwand für ästhetischen Ausdruck; man kann sie verändern und formen. Man kann sie betrachten wie Gemälde an der Wand. Was ist schon ein gemütlicher Wohnraum ohne Fahrrad?
Auf die Frage, wie viele Fahrräder man braucht, antwortet unser Vater: man brauche mindestens vier – ein Mountainbike, ein Rennrad, ein Einkaufsrad und ein Fahrrad für repräsentative Zwecke. Optional ließen sich dann noch ein Bahnhofsrad, ein Lastenrad und einige Oldtimer hinzufügen. Aber mit weniger als vier Fahrrädern sei eine geordnete Existenz schwer vorstellbar, sagt er.
Heute sind wir mit Rennrädern unterwegs. Wir verlassen Ahrensburg und fahren auf asphaltierten Nebenstraßen durch Ammersbek und Kleinhansdorf nach Jersbek. Am Anfang einer Tour ist es sinnvoll, sich erst langsam warm zu fahren, bevor man das Tempo erhöht. Wir tun das nicht und bereuen es am nächsten Tag beide.
Unsere Route führt uns am Gut Jersbek vorbei. Das Herrenhaus ist in Privatbesitz und nicht öffentlich zugänglich. Der Barockgarten neben dem Gut hingegen schon. Wir schieben unsere Fahrräder über die Sandwege der Parkanlage und ich wundere mich, noch nie hier gewesen zu sein. Ich bin viele Male hier vorbeigefahren und habe diesen Ort dabei immer wieder übersehen. Vermutlich kennen alle Tourist:innen diesen Ort besser als ich.
Auf Nebenstraßen fahren wir weiter nach Elmenhorst. Der Weg ist von großen alten Bäumen gesäumt. Löchrige Blätterdächer und leises Rauschen. Daneben große Felder mit Knicks und Dorfnamen wie Fischbek, Sattenfelde und Rohlfshagen. In Lasbek-Gut windet sich die Straße vorbei an Pferdeweiden und Teichen. Alte Bäume und alte Häuser stehen daneben und warten darauf, dass jemand vorbeikommt, um die Kulisse zu malen. In Tremsbüttel stehen wir eine Weile an dem großen Gittertor vor dem Tremsbütteler Schloss. Wegen Renovierung ist das Gebäude zurzeit geschlossen. Die Fassade ist verhangen, als hätte sich das Gemäuer zu Halloween als Gespenst verkleidet. Vielleicht hat es vergessen, dass es noch Sommer ist.
Wir fahren weiter nach Bargteheide und folgen der Landstraße nach Ahrensburg zurück. Das Ahrensburger Schloss steht auf seiner Insel und erwartet uns schon. Zumindest bilde ich mir das ein. Das Schloss und ich – wir kennen uns schon. Vor ihm bin ich in der Oberstufe durch das Wasser gewatet, um Proben für ein Biologie-Projekt zu sammeln. Hinter ihm haben wir für den Englischunterricht einen Film zu Macbeth gedreht. Wenn Ahrensburg schon dieses eine schöne Gebäude hat, dann muss man es auch nutzen.
Zurück am Haus meines Vaters begrüßen uns die Hunde und die Fahrräder, die nicht mit auf die Tour kommen durften, überschwänglich. Mein Vater zeigt mir noch ein neues Bastelprojekt. Ein paar alte Fahrradteile verstecken sich unbemerkt in meinem Rucksack. Sie finden mich, um sich bei mir einzunisten.

Der Text ist ein Auszug aus:

Mona Harry: Ins Blaue. 20 Radtouren im Land zwischen den Meeren,
KJM Buchverlag, Hamburg 2023.
ISBN: 978-3-96194-202-2
22 €
Bestellbar hier.

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