Langsam füllt sich der Zuschauerraum des Großen Hauses im Theater Lübeck. “Ja fein”, raunt Schorsch Kamerun, vor dem geschlossenen Eisernen Vorhang am Bühnenrand sitzend, immer wieder ins Mikrofon, und, lobend: “Bist meine Beste”. Dann plötzlich streng: “Nein! Neeein! Aus!”. Zuckerbrot und Peitsche. Das Glockenspiel, das er hin und wieder in die Dauerschleife unterkomplexer Herrchenhundkommunikation hinein ertönen lässt, lässt an das pawlowsche Experiment denken. Sabbern auf den Glockenschlag, so ist fein! Reiz und Reaktion. Erziehen heißt dressieren. Während das Publikum Platz nimmt, führt er, vom Musiker PC Nackt am Klavier begleitet, gekleidet in hellem Ivy-League-Zopfmusterpulli, schonmal in das Thema des Abends ein.
Und dann geht es los. Die Saaltüren werden geschlossen, Ruhe kehrt ein, das Licht geht aus. Durch die Tür im Eisernen Vorhang tritt – nein, kein Hund – sondern Stefanie (Luisa Böse). Und Stefanie singt erstmal Schubert („Schaurig, aber auch tröstend“). Schließlich hebt sich der Eiserne Vorhang und gibt den Blick auf die Bühne frei:
Peinlich penibel frisierte Buchskugeln, weiße Holzstrandliegen davor, rechter Hand ein buntbefensterter Pavillon, im Hintergrund ein Tennisplatz. Durch die angedeutete Grünfläche (Betreten verboten!) im vorderen Drittel des Bildes windet sich ein Weg. In der Bildmitte steht mahnend ein öffentlicher Müllbehälter in leuchtendem Orange: “Haltet Eure Umwelt sauber!”, scheint er zu rufen. Das ist die akkurate Welt, in der Stefanie und ihre Clique aufwachsen. Wie Fremdkörper allerdings, die Akkuratesse ihrer Umgebung schon rein optisch störend in ihren wild zusammengewürfelten Klamotten (Bühne & Kostüm: Katja Eichbaum).
Besser ins Bild passend bevölkern uniform gräulich-silbern schillernde, alienartige Autoritäten diese akkurate Welt (Sonja Cariaso, Jan Byl, Will Workman). Sie sind zum Beispiel die aufrechte Lehrerschaft der örtlichen Schule, immer neue Maßnahmen ersinnend, die abweichlerischen Jugendlichen durch Abtötung von Neugierde, Kreativität und Entdeckungslust in die Konformität zu zwingen – „Haltet Eure Umwelt sauber!“ Sauber von selbständigem Denken, sauber von unbequemen Fragen, sauber von lästigen Erinnerungen. Umgeben von so viel autoritärem „Umweltbewusstsein“ werden Stefanie und ihre Clique „freiwillig Müll“.
Dass das ein bequemer Weg, der Weg des geringsten Widerstandes ist, darf getrost bezweifelt werden: Textzeilen wie „Der Affe da hat nochmal Glück gehabt, dass ich heute gut gelaunt bin“ (Angst und Bange am Stück) und „Frag niemals, warum wir hier so sind, Du verlierst dabei ein Stück von Deinem Gesicht, mein Kind“ (Die Menschen aus Kiel) lassen die omnipräsente Bedrohung durch physische Gewalt aufscheinen, die mit dem Anderssein einhergeht. Sätze wie „Wenn ich Dein Vater wäre, würde ich Dich windelweich schlagen“ die Gewalt als probates Mittel der als „Erziehung“ euphemisierten Dressur.
Doch Stefanie gibt nicht auf. Es soll eine Aufführung der Theater-AG geben. Sie schlägt vor: Den Untergang der Cap Arcona thematisieren. Die große Katastrophe kurz vor Kriegsende im Mai 1945, bei der gut 7.000 Menschen – vornehmlich auf dem ehemaligen Luxusliner zusammengepferchte KZ-Häftlinge – starben, ereignete sich in Sichtweite von hier. Wer es vom sinkenden Schiff durch das acht Grad kalte Ostseewasser schaffte, wurde von der SS und ihren Erschießungskommandos erwartet. Bloß keine Zeugen der NS-Menschenvernichtungsmaschine hinterlassen. Das sei schließlich hier passiert, sagt Stefanie. Hier, vor der Haustür, hier, mitten in der akkuraten Welt – und vor gar nicht langer Zeit. Manchmal erzählen die älteren noch davon. Wie noch Jahre danach Leichenteile angespült wurden an den Badestrand. Wie fett und zahlreich in der Bucht die Aale waren in jenen Jahren nach der Katastrophe. Und wie niemand sie essen mochte. “Tatsächlich?“ entgegnen kalt die Autoritäten. Und ungerührt: „Welche Cap Arcona?”
Diese Frage eines Lehrers aus seiner Schulzeit in den 1970er Jahren nimmt der in Timmendorfer Strand geborene Musiker und Theatermacher Schorsch Kamerun zum Ausgangspunkt für einen nur vordergründig sehr persönlichen Abend. Mit dem bereits aus dem Jahr 2006 stammenden Song seiner Band „Die goldenen Zitronen“, Wenn ich ein Turnschuh wär´ schlägt Kamerun zum Ende des Abends den Bogen zu Europas aktueller kollektiver Verdrängung, vom Ostseestrand ans Mittelmeer mit seinen immer wieder angespülten toten, auf der Flucht ertrunkenen Menschen.
Zusammen mit seinem Team und dem spielfreudigen Ensemble gelingt es so, die individuelle Erinnerung an eine Jugend in der bundesrepublikanischen Nachkriegsenge zur zeitlosen Parabel für mehr Menschlichkeit und Respekt voreinander zu transformieren. Von Georg Büchner bis Erich Kästner helfen Brüder und Schwestern im Geiste dabei (Dramaturgie: Oliver Heldt). Gemeinsam rufen sie auf zum alltäglichen Widerstand gegen die Dressur der Jugend, gegen kalkuliertes Vergessen, gegen kollektives Verdrängen, gegen aufziehenden Autoritarismus, gegen menschenfeindliche Stammtischparolen die sich plötzlich als politisches Programm in Parlamenten wiederfinden lassen.
Die Botschaft des Abends ist deutlich: Den Schneeball zertreten, bevor er zur Lawine wird. Nicht warten bis Kritik am Staat Volksverrat genannt wird. Nicht warten, bis aus den Autoritäten wieder Autoritäter werden. Die Botschaft kommt an: Mit begeistertem, mehrere Minuten anhaltendem Applaus bedankt sich das Lübecker Premierenpublikum für ein trotz thematischer Tiefe kurzweiliges, noch lang nachwirkendes „musiktheatrales Spektakel gegen leises Vergessen und für lautes Aussprechen“.
Cap Arcona
Inszenierung: Schorsch Kamerun
Bühne & Kostüme: Katja Eichbaum
Musik: Schorsch Kamerun, PC Nackt
Licht: Falk Hampel
Ton: Niclas Breslein
Dramaturgie: Oliver Held
Mit Luisa Böse, Jan Byl, Sonja Cariaso, Schorsch Kamerun, PC Nackt, Will Workman
Band: Urs Benterbusch, Jonathan Göring, Edgar Herzog, Peter Imig
Statisterie des Theater Lübeck
Informationen und Termine auf der Seite des Theaters Lübeck:
https://www.theaterluebeck.de/produktionen/cap-arcona_2023-24.html