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Die Entwaffnung unserer Meere – ein Generationenprojekt

KulturzeitschriftDie Entwaffnung unserer Meere – ein Generationenprojekt

Im Herbst 2024 begann in der Lübecker Bucht ein Projekt, auf das viele Wissenschaftler, Umweltschützer und auch einige Politiker teils jahrzehntelang hingearbeitet hatten: die Bergung von versenkter, hochgiftiger Kriegsmunition. Das Museum für Regionalgeschichte der Gemeinde Scharbeutz zeigt in einer Ausstellung, wie die mindestens 1,6 Millionen Tonnen Kampfmittel in Nord- und Ostsee gelangten, welche Gefahren von ihnen ausgehen und wie sie entsorgt werden können.

Objekt „0001“ ist 13,9 Zentimeter lang und zwei Zentimeter breit: eine Sprenggranatenpatrone, die im Zweiten Weltkrieg unter anderem in Flugabwehrkanonen eingesetzt wurde. Sie liegt mit vielen weiteren in einer Kiste, die am 13. September 2024 vom Grund der Lübecker Bucht vor Haffkrug vorsichtig an Bord eines Schiffes geholt und dort untersucht wird. So beginnen die Pilotierungsarbeiten des „Sofortprogramms Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee“ des Bundesumweltministeriums.

100 Millionen Euro hat die rot-grün-gelbe Bundesregierung 2021 bewilligt, um ein gewaltiges Vorhaben anzugehen – die Bergung der explosiven Altlasten des Zweiten Weltkriegs. Rund 1,6 Millionen Tonnen Munition versenkten die Alliierten ab 1945 in deutschen Meeresgewässern. 300.000 Tonnen davon liegen in der Ostsee, 50.000 in der Lübecker Bucht. Jahrzehnte wird es dauern, das Meer von Bomben, Granaten, Torpedos und sonstigen Kampfmitteln zu befreien. So lange rosten sie im Salzwasser vor sich hin und setzen TNT, Phosphor, Quecksilber und weitere gefährliche Stoffe frei.

Robotfahrzeug „Luise“ spürt mit Magnetometern Metalle im Schlick auf. Foto: Marc Seidel/GEOMAR

Mit der Pilotbergung im Herbst 2024 vor Haffkrug und Pelzerhaken haben Wissenschaftler und Techniker Erkenntnisse über Art und Menge der im Wasser lagernden Munition gewonnen sowie geeignete und effektive Vorgehensweisen bei der Bergung erprobt. Gleichzeitig begann im Herbst ein Ausschreibungsverfahren für den Bau einer weltweit neuartigen schwimmenden Entsorgungsanlage, auf der die Altlasten vor Ort weitgehend rückstandslos verbrannt werden sollen. Mit dem ersten Einsatz dieser Anlage ist frühestens Ende 2026 zu rechnen – über die Vergabe ist noch nicht entschieden worden. Und: Eine Anlage allein wird bei weitem nicht ausreichen, um die riesige Menge zu beseitigen, Fachleute schätzen den Bedarf auf 15 bis 20 Bergungsplattformen. Es wird von der Bereitschaft der jetzigen und künftiger Regierungen abhängen, weitere Mittel für diese Generationenaufgabe zur Verfügung zu stellen.

Gezielte Verklappung in Nord- und Ostsee

Jahrzehntelang verkannten Politiker die Gefahren, die von der versenkten Munition ausgehen, und sahen keinerlei Verpflichtung, diese zu bergen. Schließlich seien ja die Alliierten für die Verklappung verantwortlich gewesen. Dass es sich bei den Altlasten zum allergrößten Teil um deutsche Munition handelt, wurde gern verschwiegen. Denn nach dem Krieg standen die Siegermächte vor dem Problem, das ehemalige Deutsche Reich so schnell wie möglich zu entmilitarisieren. Rüstungs- und Sprengstofffabriken wurden zerstört, aber die Vernichtung der gewaltigen Mengen Kampfmittel, die in den Besatzungszonen lagerten, war eine zeitaufwändige und gefährliche Aufgabe, zumindest an Land. So wurde entschieden, die Bestände in festgelegten Arealen zu entsorgen – ein schnelles und vordergründig unkompliziertes Verfahren, das auch in anderen Teilen der Welt gewählt wurde.

Im Juli 1945 definierte die britische Royal Navy Verklappungsgebiete für „feindliche Munition“ in der Ostsee, die von Flensburg, Kappeln, Kiel und Lübeck angelaufen werden sollten. Die Zuwegungen waren genau vorgeschrieben, da zunächst nur sie von Minen geräumt waren. Von Lübeck aus gingen die Transporte ab 3. November 1945 in die Lübecker Bucht in Areale vor Pelzerhaken und Haffkrug. Zuvor waren hier – wie auch in Emden, Kiel und Flensburg – ab Kriegsende bis Ende Oktober ausgemusterte deutsche Schiffe mit Chemiewaffen beladen und im Skagerrak versenkt worden. Das hatten die britischen und US-Behörden mit Norwegen ausgehandelt – man wollte Tabun, Adamsit und weitere hochgiftige Stoffe in tiefen Seegebieten loswerden.

527 Tonnen in einer Woche

Ab Herbst 1945 wurde dann konventionelle Munition aus den Arsenalen und Fabriken Schleswig-Holsteins und Niedersachsens per Zug und LKW in den Lübecker Hafen transportiert und dort auf Klappschuten oder -schiffe umgeladen. Diese Fahrzeuge hatten Klappöffnungen im Rumpf und konnten ihre gefährliche Fracht direkt ins Wasser rutschen lassen. Da die Schiffseigner pro Fahrt bezahlt wurden, kam es jedoch vor, dass sie bereits während des Transports Kampfmittel versenkten – so konnten die Entladezeiten verkürzt werden. Wo und wie viel Munition wild über Bord gekippt wurde, ist nur unzureichend bekannt.

Versenkungsgebiete O8 bis O10 sowie Munitionsverdachtsflächen V5 bis V7 in der Lübecker
Bucht. Im Gebiet O10 konnten bislang keine Munitionsaltlasten nachgewiesen werden, es ist
daher nicht Teil des Sofortprogramms.

Genaue Angaben über Art und Anzahl der in Lübeck auf Schiffe verladenen Munition hingegen verdankt das Museum für Regionalgeschichte den Aufzeichnungen und Fotos des britischen Sergeanten Roy Tull. Er war als Mitglied des Bombenräumkommandos der Royal Air Force um die Jahreswende 1945/46 in Lübeck stationiert und für die Organisation der Verklappungsfahrten zuständig. Seine Tochter Barbara Tull hat die Dokumente aufbewahrt und dem Museum kostenlos zur Verfügung gestellt.

So wurden etwa am Montag, den 17. Dezember 1945, 173 Tonnen Bomben verschifft und versenkt. Am Donnerstag, den 20. Dezember, waren es 49 Tonnen Minen. Die Gesamttonnage der Woche vom 16. bis zum 22. Dezember 1945 betrug 527 Tonnen.
Am 15. Dezember hingegen konnte die gefährliche Fracht der am Kai wartenden Waggons nicht umgeladen werden, da keine Schuten verfügbar waren und das Klappschiff außer Betrieb war.

Lübeck kurz vor einer Katastrophe

Wie gefährlich die Verladeaktionen waren, belegt das Explosionsunglück vom 20. August 1946 im Lübecker Wallhafen. Eine Fliegerbombe – die erste von zwölf baugleichen, die in Eisenbahnwaggons zum Umladen bereitlagen – rutschte aus der Hebeschlinge des Krans, fiel etwa einen Meter tief auf das Pflaster und explodierte. Sechs Arbeiter waren sofort tot, zwei wurden schwer verletzt und starben später. Die Hafenbehörde bat die britischen Besatzungstruppen um Hilfe. Staffelführer Hubert Dinwoodie meldete sich freiwillig und nahm Corporal Garred sowie seinen Fahrer Hatton mit zum Explosionsort. Die Bauart der zu entschärfenden elf Bomben war weder britischen noch deutschen Spezialisten bekannt. Es handelte sich um eine Neukonstruktion mit einer fehlerhaften Verarbeitung. Zwei Bomben befinden sich in einem so gefährlichen Zustand, dass die kleinste Erschütterung zur Detonation hätte führen können.

Nach der Explosion im Lübecker Hafen.

Diese Situation gefährdete tausende Menschen in der Umgebung, da der Kai direkt gegenüber der Altstadt liegt. Daher beschloss Dinwoodie, die Bomben nicht durch die Stadt abzutransportieren, sondern trug sie eigenhändig mit seinen beiden Assistenten über den Kai, verlud sie auf ein Boot und brachte sie flussabwärts in ein unbesiedeltes Areal, wo sie gesprengt wurden. Anschließend musste die gesamte Ladung weiterer Waggons untersucht werden, um sicherzustellen, dass durch die Explosion keine weiteren Bomben scharf gemacht worden waren. Insgesamt dauerte die Untersuchung und Entschärfung der Bomben vier Tage.

Hubert Dinwoodie erhielt im Februar 1947 für seinen kaltblütigen Einsatz das Georgs-Kreuz, das höchste zivile Ehrenzeichen für Tapferkeit im Vereinigten Königreich. Auch Garred und Hatton wurden ausgezeichnet. In Lübeck ist über die Beinahe-Katastrophe kaum etwas bekannt.

Explosion der „Pollux“ vor Neustadt

Nur sechs Tage zuvor, am 14. August 1946, war die „Pollux“, eines der beiden häufig eingesetzten Dampfklappschiffe, bei der Entladung von Munition etwa zwei Kilometer vor Neustadt explodiert. Die Detonation war so gewaltig, dass an Land von Grömitz bis Neustadt Scheiben zu Bruch gingen und eine zweieinhalb Meter hohe Flutwelle den Küstenstreifen überrollte.

Acht Seeleute kamen bei dem Unglück ums Leben. Das Schiff, das 250 Tonnen Bomben an Bord hatte, blieb nach der Explosion spurlos verschwunden. Auch die Leichen der Besatzungsmitglieder wurden nicht gefunden. Die Lübecker Hafenbehörden vermuteten, dass sich die Katastrophe ereignete, als verklappte Kampfmittel auf Sprengstoffe trafen, die bereits am Meeresgrund lagen.

 

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