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Von der „Silence of the Archive“ zum studentischen Projekt

Wenn Quellen endlich zum Sprechen gebracht werden

KulturzeitschriftWenn Quellen endlich zum Sprechen gebracht werden

Seit einiger Zeit gehört zum attraktiven wie anspruchsvollen Lehrangebot der Kieler Regionalgeschichte die studentische Projektarbeit. In der Regel geht es darum, dass Studierende bei einem von ihnen zu planenden und zu gestaltenden Projekt aktiv und selbstständig wissenschaftliche Inhalte recherchieren, die dann nicht in der gängigen Form des Referats und der darauf fußenden Hausarbeit wiedergegeben, sondern einer didaktischen Reduktion unterzogen und für ein fachfremdes bzw. außeruniversitäres Publikum z. B. im Rahmen einer Ausstellung, aufbereitet werden. Dahinter steht das allgemeine Ziel, dass sich die Studierenden in Gruppenarbeit zusätzlich zur akademisch-theoretischen Ausbildung praxisnahe Schlüsselqualifikationen aneignen, die für die Arbeitswelt wichtig sind. Über rein fachliche Kompetenz hinaus geht es dabei insbesondere um die Vermittlung von Fähigkeiten, über welche die Studierenden im Berufsleben verfügen müssen: Flexibilität, Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit usw. Die Hinwendung zur außeruniversitären Lebens- und Arbeitswelt im Projekt hat dabei den positiven Effekt, dass die Arbeit der Studierenden eine besondere, öffentlichkeitswirksame und damit ernst zu nehmende Relevanz erlangt und auf eine breite öffentliche Resonanz treffen kann. Sie ist damit nicht länger ein wissenschaftliches „Sandkastenspiel“, wie der Kieler Didaktiker Karl Heinrich Pohl einmal ganz zu Recht gemeint hat. Das kann die Motivation und die Lernleistung der Studierenden enorm erhöhen. Der Vorteil für die Regionalgeschichte besteht auch darin, dass durch den engeren Arbeitskontakt im Rahmen eines in seiner Teilnehmerzahl aus praktischen Gründen zu begrenzenden, da sehr arbeitsintensiven Projektseminars Lehrende weitaus besser auf die für das Fach geeigneten Studierenden aufmerksam werden als bei einer üblichen Vorlesung oder im gewöhnlichen Seminar. Daneben ist ein Projekt bei einer öffentlichkeitsrelevanten Realisierung nie nur Werbung nach innen, auf der Suche nach wissenschaftlichem Nachwuchs, sondern immer auch und insbesondere nach außen, in der breiten außeruniversitären Öffentlichkeit, der auf diese Weise authentisch vermittelt werden kann, dass unsere Wissenschaft beileibe keine Wissenschaft im Elfenbeinturm ist, sondern mitten im Leben steht und für die Außenwelt eine hohe Relevanz erlangen kann. Projekte fördern demnach das außeruniversitäre Interesse an unserer Arbeit und die Akzeptanz für diese.

Ein solches Projekt wird gerade zur Erschließung und wissenschaftlichen Auswertung des bisher inhaltlich weitgehend unbekannten Nachlasses von Max Planck realisiert, der stumm in einem sicheren Tresorschrank verharrte. Die Wissenschaft spricht nicht zu Unrecht von der „Silcence of the Archive“, dem Schweigen des Archivs also, wenn dessen reiche Bestände schlecht oder gar nicht erschlossen sind und deswegen in seinen Depots unbeachtet einen traurigen Dornröschenschlaf schlafen. Kaum aber sind die Quellen im Archiv gesichtet und erschlossen und bestenfalls sogar noch als Digitalisate frei zugänglich weltweit abruf- und benutzbar, dann beginnen sie geradezu zu erwachen und zu sprechen: Denn Wissenschaft und Interessierte arbeiten endlich mit ihnen! Sie wollen diesen zuhören und sie verstehen. Genau das passiert gerade mit den vielen verstaubten und vergilbten Notizen, Postkarten, Dokumenten und Papieren, die uns der alte Max Planck und seine zweite Ehefrau Marga hinterlassen haben.

Seit Mitte Oktober 2022 widmen sich nun also vier Geschichtsstudierende in einem fortgeschrittenen Stadium ihres Masterstudiums der weiteren Auswertung dieses Nachlasses, nachdem ein interdisziplinäres Team von wissenschaftlichen Mitarbeitern und Hilfskräften bereits erste digitale Erschließungsschneisen in das Überlieferungsdickicht geschlagen hat und dies weiterhin und fortlaufend tut (siehe die Beiträge von Karoline Liebler, Erik Schroedter sowie Anne Krohn in diesem Heft). Vier Studierende sind natürlich nicht allzu viel. Indes liegt diese niedrige Zahl am wenigsten an einem grundsätzlich mangelnden Interesse am Thema. Vielmehr gibt es zurzeit viele ebenfalls spannende Konkurrenzangebote. Vor allem aber spricht der Sachverhalt unbedingt für ausgezeichnete Studienbedingungen in Kiel und einen vorbildlichen Betreuungsschlüssel – und viel Betreuung benötigen die Studierenden im Rahmen des Projekts allemal. Denn sie müssen nicht nur intensiv mit dem Programm Omeka-S vertraut gemacht werden, mit dessen Hilfe das Material bereits vorerschlossen wurde, sondern sie müssen insbesondere paläographisch unterwiesen werden. Das im Tresor befindliche Material ist zum größten Teil handschriftlich überliefert, und die Lektüre alter Schrifttypen, vor allem der damals verbreiteten altdeutschen Schrift, und nicht zuletzt der Handschrift des alten Max Planck stellen für ungeübte Augen eine ganz große Herausforderung dar. Nach einer allgemeinen Einführung in die Schriftkunde haben wir daher eine beliebige Auswahl aus dem Nachlass im Plenum gemeinsam zu lesen versucht, um mit dem Schriftproblem vertraut zu werden. Den Rückmeldungen nach hat das den Studierenden sehr viel gebracht und vor allem Spaß gemacht. Auf dieser Basis und nach einer kurzen Einführung in den Quellenfundus konnten sich die Studierenden dann jeweils einen speziellen thematischen Bereich auswählen und sich außerdem noch individuell für eine Präsentationsform ihrer Ergebnisse entscheiden. Die Studierenden entschlossen sich dazu, die öffentliche Wahrnehmung Max Plancks im Nachkriegsdeutschland in den Blick zu nehmen (Marco Büchmann), die späten Reisen Max Plancks zu untersuchen (Vivien Walter), das Schicksal Erwin Plancks, des im Januar 1945 von den Nationalsozialisten hingerichteten Sohnes von Max Planck, zu beleuchten (Hauke Seier) und den „Persilscheinnetzwerken“ im Entnazifizierungsgeschehen um Max Planck nachzugehen (Malte Thomsen). Für diese Themenfelder bietet der Tresor voller Quellen einen reichhaltigen Schatz.

Eigenarbeit und Selbststudium wechseln sich nun fortlaufend mit Terminen im Plenum ab, bei denen die Arbeitsergebnisse präsentiert und zur Diskussion gestellt werden. Zur Arbeit gehört die Transkription der herangezogenen Quellen. Quellen wie die daraus gewonnenen Erkenntnisse sollen ganz oder auszugsweise im Sinne der dritten akademischen Mission des Wissenstransfers der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Die Seminarteilnehmer haben sich dazu entschlossen, ihre Ergebnisse mittels Podcasts, einer interaktiven digitalen Karte und einer kleinen Webseite zu veröffentlichen.
Quellen, die seit dem Todesjahr Max Plancks 1947, also 75 Jahre lang und auch noch länger, unsortiert und weitgehend unbeachtet geschwiegen haben, werden so endlich zum Sprechen gebracht. Und was sie mitzuteilen haben, überrascht immer wieder.

Oliver Auge

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