Seit 1999 regelmäßig in Kiel: das Monodrama-Festival THESPIS

Mit THESPIS steht Kiel auf der Weltkarte der internationalen Theaterfestivals“. Dass Deutschlands einziges Monodrama-Festival in Kiel stattfindet, geht auf die Initiative von Jolanta Sutovicz zurück.

Ein Monodrama. Was soll das sein? Starrt da jemand in den Spiegel und spricht mit sich selbst? Gehört zu einem Theaterstück, einem Drama, nicht unabdingbar das Gegenüber, der Dialog, die zwischenmenschliche Aktion? Der Theaterautor und -regisseur Jens Raschke zitiert die durchaus auch in Schauspielerkreisen verbreitete Ansicht: „Ich meine, so richtiges Theater, das fängt doch erst an, wenn sich mindestens zwei Menschen gegenüberstehen und miteinander was verhandeln. Sich streiten, zusammen weinen oder sich verliebt um den Hals fallen. Das ist für mich Theater“. Und als Student der Literaturwissenschaft hat man es doch schon bei Peter Szondi, einer Autorität auf dem Feld der Dramentheorie, gelernt: „Von der Möglichkeit des Dialogs hängt die Möglichkeit des Dramas ab“.

Also ohne Dialog kein Drama? Ein Monodrama also ein Widerspruch in sich? Aber Jens Raschke ist dem Monodrama selbst eng verbunden und gibt hier eine Einschätzung wieder, die er selbst ganz und gar nicht teilt. Ohne Zweifel ist das Monodrama eine sehr spezielle Spielart des Schauspielertheaters, aber eine, die in der Vielfalt ihrer darstellerischen Möglichkeiten und in ihrer Faszination für das Publikum keineswegs hinter dem traditionellen Mehrpersonenstück zurücksteht. Und in den Anforderungen an seine Darsteller geht es darüber sogar noch hinaus. Karlheinz Braun, Herausgeber eines Sammelbandes mit 15 Monodramen, fasst zusammen, was die Spielvorlage von ihm oder ihr verlangt:

„souveräne Verfügung über meist große Textmengen, äußerste Konzentration bei ständiger Präsenz, physische Kraft und schauspielerische Virtuosität, richtiges Timing, schnelle Reaktionsfähigkeit auf mögliche Einwürfe des Publikums, Witz, Selbstironie und Charme – vor allem aber eine Aura, als Einzelner Viele verführen und in Bann schlagen zu können. Für das Monodrama ist der Schauspieler alles“.

Mit dem einzigen Darsteller steht und fällt das ganze Stück und für das Publikum der ganze Abend. Für ihn – oder sie – bedeutet das einen ungeheuren Erwartungsdruck – das ist die Kehrseite des beschriebenen Anforderungskatalogs, die wiederum Jens Raschke auf den Punkt bringt: „Man kann die Ängste derer verstehen, die ganz allein durch den Abend müssen, ohne einen Kollegen im Rücken, vor sich eine Wand aus Skepsis, einer gegen alle“.

Das Einpersonenstück hat in Kiel seit 1999 eine feste Heimstatt. Mittlerweile zum zehnten Mal ist THESPIS, das Internationale Monodrama Festival, hier über die Bühne(n) gegangen. Während in Minsk / Weißrussland, in Moskau, Jerewan / Armenien, Tel Aviv und Edinburgh bereits regelmäßig Monodrama-Festivals veranstaltet werden, war das für die Landeshauptstadt und für die Bundesrepublik insgesamt ein ganz neues Terrain. Auf deutschen Bühnen bildete das Einpersonenstück bis dahin die Ausnahme im Spielplan: ‚Klassiker‘ wie Samuel Becketts „Das letzte Band“, Jean Cocteaus „Die geliebte Stimme“ oder Patrick Süskinds „Der Kontrabass“, neuerdings auch gern die  Monologversion von Irmgard Keuns „Das kunstseidene Mädchen“, wurden zu Paraderollen für einen Publikumsliebling. Oder man  nahm schon mal eine Studioproduktion für eine Person ins Programm, reduzierte dadurch die Kosten und gab gleichzeitig einem Ensemblemitglied die Chance, sich als Solist zu profilieren. Dafür bot sich etwa Franz Xaver Kroetz‘ „Wunschkonzert“ an, die Pantomime einer älteren Frau, die sogar ganz ohne Worte auskommt. Das Kieler Schauspielhaus hat in dieser Spielzeit mit der Selbstdarstellung eines Obdachlosen (Jim Price: „Protestsong“; gespielt von Marius Borghoff – auch im Programm des diesjährigen Monodramafestivals) und den Reflexionen einer amerikanischen Pilotin, die aus sicherer Entfernung in ihrer kalifornischen Kaserne einen Kampfdrohneneinsatz in Afghanistan steuert (Georg Brant: „Am Boden“; gespielt von Jennifer Böhm) gleich zwei solche Produktionen auf dem Plan.

THESPIS in Kiel verdankt sich der Initiative und dem leidenschaftlichen Engagement einer einzigen Frau: der polnischen Theater-, Film- und Fernsehschauspielerin Jolanta Kozak-Sutowicz, die Mitte der 80er Jahre mit ihrem Mann Leonidas Sutowicz emigrierte und seit 1987 in Kiel lebt. In Polen hatte sie an den Bühnen in Krakow, Warszawa und Szczecin gespielt, sich im Theaterlaboratorium von Jerzy Grotowski inspirieren lassen und in Filmen von Andrzej Wajda, Krzysztof Zanussi u.a. mitgewirkt. Die Anfänge in Deutschland waren nicht ganz leicht und bis sie zur Direktorin des Monodramafestivals avancierte, vergingen einige Jahre. Jolanta Sutowicz hat zunächst wieder im alten Beruf Fuß gefasst und in Kiel beim Polnischen Theater und dann bei den „Komödianten“ mitgespielt, daneben aber auch als Theaterpädagogin gearbeitet.

Eine ganz neue Phase begann, als sie mit ihrem Mann das Tourneetheater „Ex Re“ gründete, das mit Einpersonenstücken in lateinischer Sprache (!) gastierte. Die zumindest auf den ersten Blick verblüffende Entscheidung dafür resultierte aus der Überlegung, wie man sich einem Publikum in ganz verschiedenen Ländern verständlich machen könnte, ohne sich einer der jeweiligen Landessprachen zu bedienen. Da freilich hinreichende Kenntnisse des Lateinischen auch bei Theaterinteressierten nicht vorausgesetzt werden konnten, musste wenigstens der Stoff, der ‚Plot‘, in etwa bekannt sein oder sich aus der Darstellung sozusagen ‚von selbst‘ erschließen. Jolanta Sutowicz ließ sich zunächst von einem Kieler Altphilologen ‚schulen‘ und nahm dann Kontakt zu dem Münchner Professor Wilfried Stroh auf, der sich mit seinem Verein „Sodalitas Ludis Latinis faciundis“ die Wiederbelebung des lateinischen Musiktheaters und Schulspiels zum Ziel setzte und bereits mit Theaterveranstaltungen, Konzerten, Pantomimen und Seminaren in Ellwangen, Augsburg, Freising und München aufgetreten war. In Zusammenarbeit mit ihm entwickelte sie ihre erste Eigenproduktion auf der Grundlage des Pygmalion-Mythos in Ovids „Metamorphosen“. Damit trat sie u.a. bei einer Fortbildungsveranstaltung des Deutschen Altphilologenverbandes im Saal des Prager Nationalhauses 1994 auf – mit durchschlagendem Erfolg. Im Mitteilungsblatt des Verbandes hieß es dazu:

„Der kulturelle Höhepunkt des gesamten Seminars aber war eine Premiere: Jolanta Kozak-Sutowicz präsentierte unter der Regie ihres Mannes Leonidas Sutowicz nach dem Vorbild des antiken Mimus eine Stunde lang in einer großartigen schauspielerischen Leistung den Pygmalion-Mythos“.

Mit diesem Monodrama gastierte sie auch bei internationalen Festivals in Edinburgh, in Avignon, in Jyväskylä/ Finnland und in zahlreichen deutschen Städten, darunter in Hamburg und in Lübeck. Eine zweite Produktion, gleichfalls auf einer lateinischen – aber weit weniger bekannten – Quelle beruhend, schloss sich an: das ‚Mimodrama‘ „Apocalypsis“ von Roswitha [Hrotsvit] von Gandersheim: die in Hexametern verfassten Kommentare zu einer Darstellung der Himmelfahrt des Johannes im Kloster Gandersheim werden in Musik und Pantomime umgesetzt. Aufführungen dieser dichterischen Visionen fanden u.a. 1997 im Burgkloster Lübeck und in der Kieler Nikolai-Kirche statt.

Mit beiden Produktionen (die mehr als 50 Aufführungen erlebten) wird Jolanta Sutowicz noch im gleichen Jahr zum Monodramafestival in Minsk / Weißrussland eingeladen. Und hier wird auch die Idee für  ein eigenständiges internationales Monodramafestival in Kiel geboren. Allerdings: die Idee ist das eine – und die Umsetzung etwas erheblich anderes. In Minsk und bei früheren Festivals in Edinburgh und Avignon hatte Jolanta Sutowicz schon zahlreiche Verbindungen geknüpft und Künstlerinnen und Künstler kennengelernt, die bereit waren, auch an einem Festival in Deutschland teilzunehmen. Aber nun galt es, eine Infrastruktur dafür aufzubauen, Partner und Spielstätten zu finden, Förderer und Sponsoren für die technische und finanzielle Unterstützung zu gewinnen.

Es ist ihr gelungen, mit ihrer Begeisterung andere – im Theater Kiel, im Kulturamt der Landeshauptstadt und in der Kulturabteilung der Landesregierung – anzustecken, auch wenn die erste Reaktion meist eher verhalten war: „(faszinierend, aber) verrückt“. Doch man zeigte sich immerhin bereit, Starthilfe für ein erstes Festival in Kiel zu geben (von einer Biennale war wohlweislich zunächst nicht die Rede).

Als sehr hilfreich erwies sich, dass der neu gegründete Trägerverein Maecenas e.V. („Verein zur Förderung des europäischen Kulturerbes im Bereich der Darstellenden Künste“) sich auf die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Theaterinstitut (ITI), der weltweit größten NGO-Kulturkooperative im Sektor Theater und Tanz – 1948 unter dem Dach der UNESCO entstanden – stützen konnte. Jolanta Sutowicz hatte in Minsk Valery Khasanov, den Direktor des nationalen russischen Zentrums des ITI, kennengelernt, der seinerseits die Verbindung zum nationalen deutschen Zentrum herstellte. Beide Zentren traten im Flyer zum 1. Internationalen Monodrama Festival im Oktober 1999 in Kiel als Partner des veranstaltenden Vereins auf. Als Markenzeichen wählte man den Namen THESPIS und knüpfte damit an den altgriechischen Tragödiendichter an, der im 6. Jh. vor Christus als erster bei den Dionysosfesten dem Chor einen Schauspieler (in der Tracht des Dionysos) gegenüberstellte und so den Wandel vom kollektiven Chorauftritt zum Drama einleitete. Eine (bescheidene) Anschubfinanzierung gewährten die Kulturstiftung des Landes Schleswig-Holstein, das Kulturamt der Landeshauptstadt und der bundesweite Fonds Darstellende Künste. Damit war freilich die Gesamtfinanzierung des Festivals noch keineswegs gesichert, zumal zwei der Geldgeber (Stiftung und Fonds) nach ihren Statuten nur projektgebundene Zuschüsse, keine Dauerförderung, bewilligen dürfen. Bis heute – zum mittlerweile zehnten THESPIS-Festival – können den auftretenden Künstlerinnen und Künstlern keine Honorare gezahlt werden (ihnen werden lediglich die Reise- und Aufenthaltskosten erstattet) und der Trägerverein – bzw. Jolanta Sutowicz als Festivaldirektorin selbst – ist gehalten, den nach Zuschüssen, Spenden und Eintrittsgeldern verbleibenden Fehlbetrag aus eigenen Mitteln zu decken.

Ungeachtet der schwierigen Startbedingungen und des nach wie vor ungesicherten Budgets entwickelte sich das Projekt des ersten – und bis heute einzigen – deutschen Monodramafestivals zur Erfolgsgeschichte. Noch im Jahr der ersten Veranstaltung in Kiel knüpften Valery Khasanov und Jolanta Sutowicz in Moskau ein Netzwerk solcher Festivals, das 2002 auf dem Weltkongress des ITI in Athen mit der Gründung des „Monodrama Forums“ institutionalisiert wurde – mit der THESPIS-Gründerin als Vizepräsidentin. Diesem Forum gehören inzwischen Festivals in zahlreichen Ländern von Litauen  bis Zypern und von Luxemburg bis Armenien an, auch Israel (Tel Aviv) und die Vereinigten Arabischen Emirate (Fujairah) sind dabei.

Vom 13. bis zum 19. Oktober 1999 fand THESPIS I in Kiel statt. Die Schirmherrschaft hatte Heide Simonis, die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin, übernommen. Neben den Geldgebern des Bundes, des Landes und der Stadt Kiel leisteten verschiedene deutsch-ausländische Gesellschaften, die Stiftung der Sparkasse, der Landeskulturverband und die Landesentwicklungsgesellschaft sowie eine Reihe weiterer Sponsoren (Unternehmen) logistische und organisatorische Unterstützung, teils auch in Form kostenloser Dienstleistungen. Siebzehn Monodramen aus dreizehn Ländern präsentierten sich auf vier Bühnen im Kommunikationszentrum „Pumpe“, im Kieler Schauspielhaus und im Theater im Werftpark dem Publikum. Vier Produktionen kamen aus Deutschland, darunter eine vom Kieler Privattheater „Die Komödianten“ (Herbert Kaluza: „König Benja“, basierend auf einer Erzählung aus Isaak Babels „Geschichten aus Odessa“). Mit Litauen, Russland, Polen und Israel waren vier Länder vertreten, aus denen auch an vielen weiteren THESPIS-Festivals Akteure teilnehmen sollten. Heimat der übrigen Stücke waren Weißrussland, Frankreich, Moldawien, Lettland, Chile, Schweden und die Schweiz. Eine Produktion entstand als Koproduktion eines englischen und eines ungarischen Theaters („The Book of Man“, gespielt mit einer lebensgroßen Puppe als Partner). Die internationale Zusammensetzung des Produktionsteams eines Monodramas ist durchaus nicht ungewöhnlich. Der Zuschauer sieht zwar nur die eine Person auf der Bühne, aber dahinter steht stets ein Kollektiv von meist etwa 5 – 7 Akteuren. Im Programmheft werden diese Mitwirkenden – wie bei jeder anderen (‚großen‘)  Theaterproduktion – selbstverständlich auch genannt. Dazu gehören neben dem Autor / der Autorin der Text- oder Spielvorlage jemand, der die Regie führt sowie die Verantwortlichen für die Musik, die Ausstattung (Bühne und Kostüme), die Licht- und Tontechnik, oft auch noch für die Choreographie, die Dramaturgie, die Puppenführung oder die Videoeinspielungen. Theater ist immer ein höchst komplexer arbeitsteiliger Prozess – in der großen Oper nicht anders als im Einpersonenstück.

Struktur und Ablauf des Festivals sind über die Jahre im wesentlichen gleich geblieben. Von Anfang an war klar, dass die Auftritte von einer international besetzten fachkompetenten Jury begleitet und ‚bewertet‘ werden und dass am Ende eine Preisverleihung stehen sollte. Zum Sprecher dieser meist sechsköpfigen Jury avancierte Valery Khasanov (der “Vater des Monodramas“) und er blieb es bis zu seinem Tod 2012. Der Jury des ersten Veranstaltungszyklus gehörten auch die künstlerischen Leiter der Monodramen-Festivals in Minsk und Tel Aviv, der Direktor des deutschen ITI-Zentrums und ein Mitglied der Kieler Theaterleitung an. Khasanov legte Wert darauf, dass jedes Mitglied ein Statement abgab, bevor er sich selbst äußerte (und damit in der Regel den Ausschlag gab). Neben den drei bescheiden dotierten Preisen, die einige Male auch ex aequo vergeben wurden, zeichnete die Jury meist weitere Produktionen als besonders bemerkenswert aus. Preisträger des ersten Festivals waren die Litauerin Birute Mar [Marcinkeviciute] mit ihrer Version von Samuel Becketts „Glückliche Tage“ unter dem Titel „Worte im Sand“ (in englischer Sprache) und der Pole Jan Peszek mit einem „Szenario für einen nicht existierenden, aber möglichen instrumentalischen Schauspieler“, das als „aberwitziger Vortrag über die Soziologie der modernen Musik“ annonciert wurde (in polnischer Sprache). Birute Mar gastierte auch bei mehreren weiteren Festivals und erhielt 2003 zum zweiten Mal den Hauptpreis (für „Der Liebhaber“ nach Marguerite Duras‘ gleichnamigem Roman).

Die Aufführungen bei THESPIS werden stets von einem Rahmenprogramm begleitet (einem Seminar oder Workshop sowie einem öffentlichen Vortrag oder Diskussionsforum). Dabei wird gern auch die Sonderform des Monodramas selbst thematisiert: Bedeutet es „Freiheit“ oder „Begrenzung“? Ist es die „Königsdisziplin des Schauspielers“ oder doch eher eine ressourcenschonende Notlösung? Seit 2004 findet auch regelmäßig in den Räumen der Kieler Nachrichten ein mehrtägiges Symposium über Theaterkritik statt, das sich an Journalisten und Schauspieler wendet. Der Festivaldirektorin ist sehr daran gelegen, die teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler auch untereinander und mit Kritikern in Kontakt zu bringen. Sie legt daher auch großen Wert darauf, dass alle eingeladenen Produktionsteams während der gesamten Dauer des Festivals in Kiel bleiben, sich gegenseitig kennenlernen und austauschen – THESPIS sollte von vornherein mehr sein als eine beziehungslose Folge von Anreise, Auftritt und Abreise einzelner Gruppen. Es war und ist bis heute „Jolantas Fest“, zugleich aber eine liebenswerte Bereicherung der kulturellen Szene Kiels und ihr Alleinstellungsmerkmal. Als die Leiterin 2012 den Kieler Kulturpreis erhielt (zusammen mit dem bildenden Künstler Bernhard Schwichtenberg), nannte der Laudator Tobias Biancone, der derzeitige Direktor des ITI, sie „eine exzellente Botschafterin für die Landeshauptstadt Kiel“.

Nicht weniger als 50 Nationen aus allen fünf Kontinenten haben mit insgesamt etwa 160 Stücken an den – bisher – zehn Festivals teilgenommen, manche – wie Moldawien, Schweden, Syrien, Aserbeidschan, Slowenien, Island, Palästina, Tunesien oder Burkina Faso nur ein- oder zweimal, andere (neben den schon genannten ‚ständigen‘ Teilnehmerländern) – wie die Ukraine, Japan, Armenien und die USA – zumindest immer mal wieder. Auffallend ist die Konzentration auf Osteuropa bzw. die Länder der ehemaligen Sowjetunion: über 40 Produktionen kamen aus dieser Region (gegenüber gut 60 aus Westeuropa und den USA; auch Afrika und der Nahe Osten setzen eigenständige Akzente in der Monodramenlandschaft. Bei den Gastspielen in Kiel handelt es sich sehr häufig um die deutsche Erstaufführung, in der Regel gespielt in der Originalsprache.

Das erste Festival 1999 war für Kiel ein Wagnis; das Interesse des Publikums und damit die möglichen Besucherzahlen waren kaum einzuschätzen. Hauptspielstätte war das Kommunikationszentrum „Pumpe“, das geeignete kleinere Räume bot und in der Theater- und Kleinkunstszene einen Namen hatte. Die städtischen Bühnen stellten das Studio im Schauspielhaus, eine Probebühne und das Theater im Werftpark zur Verfügung; auch die Eröffnung fand aber in der Pumpe statt. Mittlerweile ist die Große Bühne für die Auftaktveranstaltung ‚gesetzt‘ und zum zehnjährigen Jubiläum sprachen die zuständige Ministerin, der Kulturdezernent der Landeshauptstadt und der Generalintendant. Für absehbar besonders ‚zugkräftige‘ Aufführungen wird ebenfalls das Große Haus reserviert. Nach und nach sind weitere Spielstätten hinzugekommen, so das Kulturforum in der Stadtgalerie, das Literaturhaus und das Kulturzentrum „Hansa 48“. Für Produktionen, die wegen des Themas oder der Art der Inszenierung ein besonderes Ambiente verlangen, suchen (und finden) die Veranstalter auch den passenden Aufführungsort: Birute Mar und die Griechin Aglaia Pappas traten mit ihren Versionen der „Antigone“ (2001) bzw. der „Iphigenie“ (2003) in der Antikensammlung der Kunsthalle in Kiel auf, der Schweizer Dorian Rossel führte seine Komposition von Gedichten Louis Aragons unter dem Titel „Der Krieg und was danach kam“ in der rohen Kulisse des Flandernbunkers am Marinehafen auf (2003). Dort präsentierte sich drei Jahre später auch der polnisch-englische Schauspieler Julian Swift-Speed mit seinem Monodrama „Schritte“ (nach Imre Kertesz‘ „Roman eines Schicksallosen“). Und die Norwegerin Juni Dahr konnte ihre faszinierende Collage zum Schicksal der Johanna von Orléans sogar in der Kieler Kirche St. Nikolai vorführen („Joan of Arc – Vision through Fire“, 2008).
Im Jahr 2010 wurde auch das Jüdische Museum Rendsburg mit einem politisch-musikalisch-literarischen Abend unter dem Motto „Anders jüdisch“ einbezogen (außer Konkurrenz).

Einzelne Produktionen aus dem bisherigen Gesamtprogramm herauszuheben, ist fast nicht zu rechtfertigen. Dennoch seien ein paar besonders ungewöhnliche oder wagemutige genannt – auch um die Bandbreite der Möglichkeiten des Monodramas zu demonstrieren. Das trifft in Person vor allem auf den Engländer Pip Utton zu, der mit seinem „Theatre against Racism“ seit 1998 auf Tournee geht. Es hat einige Jahre gedauert, bis er das Risiko einging, mit seinem Programm „Adolf“ – einer beklemmenden Performance über Hitlers letzte Tage im Berliner Führerbunker – auch in Deutschland aufzutreten. 2003 war er damit erstmals bei THESPIS zu Gast (und erneut beim Jubiläumsfestival 2016). Dem Kieler Publikum präsentierte sich Pip Utton aber mit vier weiteren Produktionen: mit „Bacon“ schlug er 2006 einen Bogen zwischen dem Lebensstil und den oft schockierenden Bildern des englischen Malers Francis Bacon, mit „Churchill“ porträtierte er 2014 den Premierminister und Literaturnobelpreisträger Winston Churchill und mit „Playing Maggie“ verwandelte er sich sogar in die ‚Eiserne Lady‘ Margaret Thatcher (auch 2016). Seine Vielseitigkeit stellte er 2008 erneut unter Beweis, indem er sich singend und spielend „Jeff Waynes musikalische Version des Kriegs der Welten“ (nach dem Roman von H. G. Wells) vornahm.

Literarischer Vorlagen bedient sich das Monodrama überhaupt gern. Dabei scheut es auch nicht vor kühnen Experimenten zurück: die Norwegerin Juni Dahr rafft in 90 Minuten die Romantrilogie „Kristin Lavranstochter“ von Sigrid Undset (2001) und verbindet die großen Frauengestalten aus sechs Dramen Henrik Ibsens zu einer Typologie („Ibsen Women: Put an Eagle in a Cage“, 2004). Konstantin Zheldin / Russland konfrontiert mit seinem „Moskauer Hamlet“ den tatenscheuen Helden Shakespeares mit dessen parodistischem Pendant in einem Text von Anton Tschechow (2006). Und die deutsche Schauspielerin Bridge Markland bietet mit „Räuber in the Box“ eine „Ein-Frau-mit-Puppen-Vollplayback-Show“ von Schillers „Räubern“. Zum 10. Festival standen mit „I, Elizabeth“  von und mit Rebecca Vaughan / England – einem auf historischen Dokumenten beruhenden Porträt der englischen Königin – , mit Aleksandras Rubinovas‘ / Litauen „Koba / Stalin“ – einer Studie über Stalins Persönlichkeitsveränderung auf dem Weg vom Revolutionär zum Diktator aus der Sicht eines früheren georgischen Weggefährten – und der ganz aktuellen Bühnenversion von Swetlana Alexijewitsch‘ Roman „Second-hand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus“, gespielt von dem weißrussischen Duo Elena Dudich und Vladimir Petrovich weitere ebenso spannende wie innovative Stücke auf dem Programm.

Zum zehnjährigen Jubiläum von THESPIS ist ein Katalog mit Fotos aus den bisherigen Festivals und Textbeiträgen von Beteiligten und Kritikern erschienen – geeignet, zumindest einer Reihe der aufgetretenen Mimen eben doch (Erinnerungs-)Kränze zu flechten. Ein weiterer Band mit großformatigen Aufnahmen des Festival-Fotografen Axel Nickolaus von Auftritten aus den ersten fünf Veranstaltungsreihen liegt bereits seit 2006 vor. Eine Produktion des Programms von 2016 – das Solo des israelischen Tänzer-Schauspielers Yoav Bartel – wurde noch während der Dauer des Festivals in der schleswig-holsteinischen Landesvertretung in Berlin wiederholt. Damit ist das einzige deutsche Monodrama-Festival jetzt auch ‚offiziell‘ in der Bundeshauptstadt angekommen – es könnte den Impuls für eine gesteigerte Aufmerksamkeit der internationalen Theaterszene für THESPIS in Kiel und seine Initiatorin Jolanta Sutowicz geben.

„Irgendwie war ich sicher, dass alles gut geht“

Mit Jolanta Sutowicz, der Begründerin und Direktorin des THESPIS-Festivals, sprach Rolf-Peter Carl.

Wie waren Ihre Erwartungen beim Start des ersten THESPIS-Festivals 1999? Hatten Sie von vornherein eine Biennale als Zielvorstellung im Kopf?

Ja, weil ich wusste, dass es viel mehr Energie für die Vor-und Nachbereitung des Festivals verlangt als für die Durchführung selbst. Und irgendwie war ich sicher, dass alles gut geht –  als ich Freunden sagte, was ich vorhatte, standen alle da und meldeten: “zu allen ‚Schandtaten‘ bereit“.
Diese „Schandtaten“  – das  war die Arbeit ohne Bezahlung, ohne Ende, ohne Ruhm…. Und auch heute  ist es so: alle sind da, arbeiten pausenlos, trösten mich, helfen, schützen…. Und  stehen im Hintergrund.

Wie gewinnen Sie die Teilnehmer für Ihre Festivals? Gibt es Bewerbungen von außen? Sprechen Sie gezielt Einladungen aus? Erhalten Sie Tipps von auswärtigen Experten? Existiert so etwas wie eine ‚Warteliste‘ für künftige Veranstaltungen?

Grundsätzlich spreche ich  gezielt die Einladungen aus. Bewerbungen sind natürlich möglich, aber eher die Ausnahme. Eine Warteliste existiert auch, aber Teilnehmer daraus sind  auch eher die Ausnahme. Ich (bzw. eine Person meines Vertrauens) muss alle Aufführungen sehen. Experten machen mich auch aufmerksam, wenn es irgendwo etwas Außergewöhnliches gibt.
Ich berate mich auch, recherchiere, lese, reise mit Kollegen-Innen . Aber: die bekannte Theaterjournalistin Renate Klett –  zweimal Leiterin des bekanntesten Theater Festivals in Deutschland THEATER DER WELT (übrigens auch mal als Jurorin bei Thespis tätig) –  hat mir gesagt: „Du muss alles selbst sehen, nicht als Video oder so, sonst wird dein Festival wie aus der Dose aussehen: matt und ohne Charakter“

Sie werden in den Kieler Nachrichten vom 10.11.2016 mit dem Satz zitiert: „Wir essen gemeinsam und sehen alle Stücke gemeinsam an“. (Wie) unterscheidet sich die Atmosphäre von THESPIS damit von anderen Monodramafestivals?

Bei uns ist es “warm“.  Sogar sehr warm und herzlich, alle Kollegen-Innen schaffen diese Atmosphäre, nur ich renne und schreie. Die Teilnehmer haben angefangen mich „Mama Jolanta“ zu nennen . . .
Ich zitiere einfach mal aus den E-Mails, die uns nach dem Festival gerade erreichten:

Mama Jolanta. Grüss Dich. Wir haben immer an Dich gedacht… Ohne Mama Jolanta ist das bisschen traurig. (Emre Erdem / Istanbul)
Words cannot describe the feeling of accomplishment having been a part of Thespis 2016. Although I am physically back in my office, my heart and my head is still in Kiel.  (Kurt Egelhof / National Coordinator Performing Arts Network of Southern Africa)

At a point where I was starting to think what I do is futile, I met, through you, all these people who have their own magnificent reasons for doing what we do in our own way – telling stories alone on stage. From all over the world! I feel deeply privileged to have been invited to participate. You have reminded me why I do it when I had almost forgotten.
(Donal  O’Kelly / Dublin)

Sie selbst beteiligen sich nicht an der Jurierung der Aufführungen. Was hält Sie davon ab?

Wenn ich eine Aufführung einlade, dann ist die Darstellerin / der Darsteller für mich wie mein Kind. Wie kann ich zwischen meinen Kindern wählen? Bin zu befangen.

Sie sind Vizepräsidentin des Monodrama Forums. Wie und mit welcher Resonanz arbeitet diese Kooperative?

Der Präsident, Mohamed Seid Al Afkham (Arabische Emirate), lädt nach Fujairah zu seinem Festival alle Direktoren von Monodrama Festivals ein. Dort tauschen wir unsere Erfahrungen, beraten uns, diskutieren. THESPIS ist leider nicht so reich und wir dürfen nur einige Vertreter des Monodrama Forums einladen, damit die hervorragenden Talente weitere internationale Auftritte  haben. So z.B. ist Birute Mar von den Philippinen bis Kuwait aufgetreten, der früher unbekannte Student aus Tunesien ist jetzt ein Star in Berlin und Paris – wir suchen extra Entdeckungen. Diesmal waren es in Kiel Yaser Khaseb (Iran ) und Elena Dudich ( Weißrussland ) – sie können sich über viele  neue  Einladungen freuen.

Es gibt inzwischen eine lange Liste befreundeter Festivals, mit denen wir kooperieren – in Fujairah / Arabische Emirate, in Luxemburg, in Vilnius bzw. Visaginas / Litauen, in Kiew / Ukraine, in Medresesi / Türkei, in  Wroclaw bzw. Torun / Polen, in Tel Aviv / Israel, in  Jerewan /  Armenien, in New York / USA, in Edinburgh / GB und im Kosovo. Auch das Theater Discounter /  Berlin gehört dazu.

2016 ist zum ersten Mal eine bei THESPIS gezeigte Produktion auch in der schleswig-holsteinischen Landesvertretung in Berlin aufgetreten. Was erwarten Sie sich von dieser ‚Öffnung‘ des Festivals?

Zwar zum ersten Mal in der Landesvertretung, aber nicht zum ersten Mal in Berlin:
David Calvitto mit EVENT (Thespis 2010) spielte im Englischen Theater in Berlin und  2012 Haley McGee mit OH MY IRMA im Theater Discounter. Und jetzt gastierte Stephen Ochsner THE MAXIMS OF PETER POCKETS im Theater Krefeld. Früher gab es auch eine Zusammenarbeit mit dem Theater in Schleswig. Auch die Japanerin Hotaka Hagiwara spielte übrigens schon mehrmals in Berlin.

Wir streben grundsätzlich eine Zusammenarbeit mit anderen befreundeten Theatern ab, damit wir eine Plattform für mehr Auftritte schaffen – es ist doch schade, wenn jemand um die halbe Welt fliegt, um nur einmal in Kiel aufzutreten. Aber nicht immer ist es logistisch möglich, leider. Und oft kommen die Künstler nur so kurz, weil ihre Termine sehr knapp sind.

Was wünschen Sie sich als Festivaldirektorin für die Zukunft von THESPIS?

Wie immer dasselbe: viele Zuschauer, viele Sponsoren und tolle Aufführungen!

 

Rolf-Peter Carl

zur Website des THESPIS-Festivals

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