Die Grenzen der Realität. Der Ukrainische Pavillon auf der NordArt 2021

Ein Gespräch mit den Kuratoren Darina Momot und Evgen Karas.

Sie zeigen Arbeiten von 22 Künstlerinnen und Künstlern unter dem Titel „Die Grenzen der Realität“. Worin liegt der besondere Reiz dieses Titels – was bedeutet für Sie eigentlich Realität und was liegt hinter ihren Grenzen?

Darina Momot: Realität besteht heutzutage vor allem aus unseren tagtäglichen sozialen und informationstechnologischen Kämpfen. Wir leben in einem Kreislauf aus Überzeugungen, die von den verschiedenen Stakeholdern aus Politik und Wirtschaft bestimmt sind und die uns unsere Aufmerksamkeit kosten. Aufmerksamkeit ist das neue Gold, und es wird von Manipulation bis Täuschung mit verschiedensten Methoden geschürft. Mit der Wahl des Titels wollten wir auf die Begrenztheit einer solchen Weltsicht hinweisen und auf die Konflikte, die entstehen, wenn verschiedene Überzeugungen, also Realitäten, zusammenprallen. Das ist nicht auf die persönliche Wahrnehmung beschränkt. Es können auch Realitäten in Konflikt geraten, die sich um Institutionen, Bewegungen oder gar Staaten herum entwickelt haben. Natürlich gab es eine solche geteilte Wahrnehmung schon immer. Aber jetzt, wo Überzeugungen und Überzeugung eine Sphäre kommerzieller und politischer Interessen geworden sind, die mit neuen Werkzeugen in ganz anderen Größenordnungen manipuliert werden kann, müssen wir darüber reden. Wir müssen die Grundfesten unserer Gesellschaft auf diese neuen Herausforderungen vorbereiten. Das ist wichtig überall auf der Welt. Aber in der Ukraine kulminiert diese Entwicklung: Es herrscht Krieg, das beeinflusst die Positionen anderer Staaten gegenüber der Ukraine. Dann gibt es den Präsidenten, einen Komiker, der die Herzen der Menschen mit einer Serie gewann, die bereits seine Präsidentschaft simulierte. Es gäbe unzählige weitere Beispiele, auch im Persönlichen und Privaten.

Evgen Karas: Wir haben ein kuratorisches Konzept entwickelt, das uns 2019, als es entstand, relevant erschien, und nach einer Aktualisierung 2020 umso relevanter. Unsere Ideen haben gegenüber den aktuellen Entwicklungen behauptet und bedürfen keiner neuen Erklärung. Es ist aber durchaus sinnvoll, noch einmal deutlich zu sagen, wie das Konzept entstanden ist. Die Ukraine befindet sich, wie so oft während ihrer gesamten dramatischen Geschichte, in einer sehr schwierigen Lage. Nach 30 Jahren der nationalen und gesellschaftlichen Selbstfindung wehrt sich das Land gegen einen aggressiven Nachbarn und steht vor den Herausforderungen einer globalen Pandemie. Nichtsdestotrotz muss unser Konzept allen inneren Schmerz hinter sich lassen und auf einer universellen Ebene künstlerische Verantwortung für die gesamte, so dramatische wie wundervolle Welt übernehmen. Und die Möglichkeiten für gegenseitiges Verständnis aufzeigen – mit der Kunst als universeller Methode.
„Realität“ wird in unserem Projekt von verschiedenen, separierten Gruppen repräsentiert. Und zwar eine künstlich hergestellte und Realität. Die Herausforderung der Menschheit besteht darin, die scharfen Abgrenzungen zu glätten und die Kontakträume, in denen unterschiedliche Wirklichkeitsentwürfe kollidieren, zu harmonisieren. Auf diese Weise nämlich werden gemeinsame Werte, Prinzipien und Interessen sichtbar.

Wie verbindet der Titel die Exponate?

Darina Momot: Der Titel teilt die Objekte, stellt sie einander gegenüber. Die Ausstellung selbst ist in drei Teile geteilt. Der erste widmet sich je einer Person und ihrer individuellen Erfahrung der Existenz begrenzter Sichtweisen der Realität: Da ist etwa Artem Volokitins Polyptychon, in dem der menschliche Körper als universelle Einheit zur gesichtslosen Struktur neben geometrischenVolumen wird. Oder die Arbeit „The Way“ von Oleg Tistol über die Tatsache, dass nicht jeder in den Himmel kommen wird. Oder die Arbeiten aus der Serie „Fear“ von Roman Mikhailov, die persönliche Ängste zu einem Höhepunkt steigern.
Der zweite Teil handelt von den globalen Herausforderungen, vor denen die Ukraine steht. Ein beeindruckendes Beispiel sind die Arbeiten von Maria Kulikovskaya – fünf Abgüsse des Körpers der Künstlerin, in die Gegenstände aus ihrem persönlichen Erfahrungsschatz eingebettet sind. Oder Nikolai Lukins Porträtserie von Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg verstümmelt wurden.
Der dritte Teil, separiert im Obergeschoss, symbolisiert den Wechsel von Instabilität, Ungewissheit und doch manchmal Ewigkeit. Denn trotz aller Rückschläge, die zu verzeichnen sind, bleiben menschliche Werte bestehen. Am Ende, wie auch immer wir aus der Aggressivität der Gegenwart herausfinden mögen, bleibt die ewige Einheit von Mensch und Natur. Diesen Aspekt repräsentieren die Fotografien von Synchrodogs und Masha Reva, die an der Küste und in der Natur entstanden sind, sowie die Objekte von Sergey Panasenko.

Evgen Karas: Jede Arbeit ist für sich reich an vielschichtigen visuellen Bezügen, weist aber auch gedankliche Verbindungen zu den anderen Exponaten auf. Unsere kuratorische Aufgabe ist es, die Sehweisen und Blickwinkel des Publikums mit Hilfe unseres Konzeptes auf die Logik dieses Gesamtzusammenhangs zu richten. Die Assoziationen zwischen einer Arbeit und einem übergeordneten Thema entstehen bei den Besucherinnen und Besuchern dann ganz von alleine. Weder die Einzelbetrachtung noch wir als kuratorisches Duo oder die Künstlerinnen und Künstler allein haben ein Monopol auf die Wahrnehmung und Interpretation von Kunst. Wir haben solche Werke ausgewählt, die aus verschiedenen Blickwinkeln einen Raum für die Offenlegung des Themas schaffen. Diesen Zusammenhang möchte ich nicht aufbrechen und einzelne Arbeiten hervorheben.

Welche Themen und Diskurse bewegen die zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstler in der Ukraine derzeit noch?

Darina Momot: Protestäußerungen oder Kritik am System, an der Regierung, an gesellschaftlichen Normen usw. sind in den letzten Jahren immer seltener anzutreffen. Mit Ausnahme des Themas Gendergerechtigkeit vielleicht. Viele Arbeiten kreisen eher um individuelle Erfahrungen ihrer Urheber. Besonders verstärkt wurde dieser Trend durch die Pandemie, als Künstlerinnen und Künstler begannen, das Alltagsleben als kreative Ressource zu begreifen. Und natürlich entwickelte sich die digitale Kunst unter diesen Bedingungen rasch weiter. Insgesamt ist derzeit aber noch schwierig, Themen und Problemstellungen eindeutig fest zu machen. Geht es hier um Dystopia, Cyberspace, Cyborgs, Robotik und Futurismus?

Evgen Karas: Es ist ziemlich schwierig, allgemeine Aussagen über die zeitgenössische Kunstszene in der Ukraine zu machen. Aber wir können einige Trends beobachten, die mich persönlich sehr interessieren. Beispielsweise das Thema der ukrainischen Identität, der Sprache, der Suche nach einem Platz auf der Farbpalette Europas. Oder die Versuche, die Zeitläufte zu verstehen und historische, nationale und gesellschaftliche Traumata zu reflektieren. Oder das Austesten von Grenzen der Toleranz: Toleranz bedeutet, dass der Respekt vor den Traumata möglicherweise benachteiligter Gruppen nicht mit unnötigen Beschränkungen der künstlerischen Freiheit einhergehen sollte.

Noch wird aufgebaut … Der ukrainische Pavillon auf der NordArt 2021.

Welche Rolle spielen die Proteste von 2013/2014, bekannt als Euromaidan, und der bewaffnete Konflikt mit Russland, der sich daran entzündete, in der Ukrainischen Kunstszene?

Darina Momot: Eine Schlüsselrolle spielen die Selbstidentifikation als Ukrainer und die Wiederentdeckung der eigenen Kultur. In dem man sie von Traditionen, Urlaubserlebnissen, Symbolen, Straßennamen und Städtenamen säubert, die sich in der Ära der UdSSR etabliert haben. Viele haben sich sprachlich auf Ukrainisch umgestellt. Ukrainisch zu sein, ist richtig trendy geworden. Nicht im Sinne von Folklore, sondern als Bewusstmachung der unterschiedlichen Perioden der ukrainischen Kultur und ihren vielschichtigen Ausprägungen. Viele künstlerische Projekte zielen darauf ab, die großen Namen der ukrainischen Kultur, die früher nur einem kleinen Kreis von Kunstkritikern bekannt waren, einem breiten Publikum zu erschließen. Nicht nur in den bildenden Künsten.

Evgen Karas: Natürlich geht es in der Kunst um die uralte Frage nach Leben und Tod. Gerade in einem Land, das regelmäßig von gesellschaftlichen und politischen Tragödien erschüttert wird und einem externen militärischen Aggressor ausgesetzt ist, dem schon tausende Menschen zum Opfer gefallen sind. In einer solchen Gemengelage muss die Kunst naturgemäß kraftvolle, emotionale und dramatische Formen finden. Das bezieht sich nicht nur auf Themensetzungen und Narrative. Zugleich ist nur ein gewisser Teil der Künstlerinnen und Künstler für eine gesamtgesellschaftliche Reflexion sensibilisiert. Genauso kann man auch eine aktive/bloße Abneigung gegen die visuellen Formen und Symbole des gesamten sowjetischen, russisch-imperialen Militarismus feststellen, die „russische Welt“, „russische Hosenträger“ und „russische Watte“ (bezogen auf die Steppjacke, ein gesteppter Baumwollkurzmantel als die traditionelle Kleidung der sowjetischen Gefangenen, die begrenztes primitives und aggressives Denken symbolisiert).

Darina Momot, Sie selbst waren als Künstlerin auf der NordArt 2019 mit dem über fünf Meter langen Gemälde „Cardiogram“ vertreten. Zu sehen ist darauf eine kurvenförmige Computer-Tastatur, wie die Ausschläge eines Kardiogramms. Der Herzschlag der Menschheit ist heute digital. Wann genau hat er das Real life verlassen?

Darina Momot: Für mich schon vor sehr langer Zeit. Und zwar in dem Moment, in dem es allen möglich wurde, ihr eigenes Bild online zu kreieren und mit anderen Bildern zu interagieren. Wir leben in einer Welt des digitalen Personenkultes.

Die Ausstellung sollte bereits letztes Jahr stattfinden, doch wurde die NordArt wegen der Corona-Pandemie abgesagt. Jetzt kommen wir ein Jahr später hier zusammen – sehen wir dieselbe Ausstellung, die wir im Sommer 2020 gesehen hätten? Oder hat sich etwas verändert?

Darina Momot: Die erste Idee war ziemlich groß gedacht. Da es das erste integrierte Projekt der NordArt ist, war es wichtig, einen möglichst breitgefächerten Ausschnitt dessen zu zeigen, was in der Ukraine so los ist. Von daher ist die Relevanz des Vorhabens während des letzten Jahres noch einmal größer geworden. Die Pandemie hat sich in alles hineingezwungen. Natürlich wurden viele Arbeiten und einige Künstlerinnen und Künstler ausgetauscht. Aber das hat nichts mit deren etwaigem Relevanzverlust zu tun. Sondern ganz einfach damit, dass das Material gar nicht mehr zur Verfügung steht – weil einige Werke inzwischen verkauft wurden oder sich Pläne und Arbeitsprozesse geändert haben. Wir haben das Projekt in einer sehr organischen Art und Weise laufend aktualisiert.

Die Ausstellung ist vom 5. Juni bis zum 10. Oktober 2021 in Büdelsdorf zu sehen. Buchen Sie hier ein Zeitfenster für Ihren Besuch.

Evgen Karas, Sie haben 1995 die Karas Gallery in Kyjiw gegründet, eine der wichtigsten Adressen zeitgenössischer Kunst in der Ukraine. Können Sie uns vor diesem Hintergrund die Konflikte und Debatten in der urkanischen Kunstszene kurz beschreiben?

Evgen Karas: Es ist schwierig, eine Reise von über 25 Jahren zusammen zu fassen, aber ich versuche es. Die 1990er Jahre waren die Zeit, als moderne Kunst mit ihren bis dato unbekannten, unverstandenen Formen und Bedeutungen der ukrainischen Gesellschaft vor die Füße fiel. Anstelle des gewohnten Sozialistischen Realismus. Die Kunst fiel vom Himmel ohne jegliche Infrastruktur und Hintergrundinformationen über internationale Entwicklungen, ohne überhaupt irgendeine Begleitung, ohne gesellschaftliche oder staatliche Unterstützung. Alles wurde intutitiv aus Informationsfragmenten aus „dem“ Westen und in der Logik der post-sowjetischen, post-totalitären Wirklichkeit geschaffen.
Zeitgenössische Kunst, ihre Protagonisten – einige Künstlerinnen und Künstler, Hausbesetzer und Galerien – verteidigten das Recht, in einem unversöhnlichen Kampf um ihre Existenz zu leben, trotz Konflikten mit Recht und Gesetz, trotz des totalen Unverständnisses der Gesellschaft und ihrer Kollegen. Dann, sie waren immer noch junge Künstlerinnen und Künstler (heute gelten sie als Klassiker), taten sie sich zusammen, im Veranstaltung zu organisieren und ein Publikum für sich zu gewinnen. Es kamen die ersten Kataloge, und in den 2000ern tauchten die ersten Sammler auf. Bis heute stützt sich die zeitgenössische Kunstszene in der Ukraine immer noch weitgehend auf private Initiativen und projektbezogene Unterstützung. Sie hat noch keine eigene Geschichte oder eigene Institutionen und feste Strukturen, keine Staatsgalerie und kein Zentrum für zeitgenössische Kunst. Bis heute ist die zeitgenössische Kunst hier auf Stalker angewiesen. Und sie ist auf die Einbettung in den internationalen Kontext angewiesen. Unser Projekt mit der NordArt ist genau dieses „die Potentiale des noch nicht entdeckten Teils von Europa“-Zeigen, das wir brauchen, um die ukrainische Kunst für ein internationales Publikum zu öffnen.

Das Projekt „A4 Ballpoint“, ein Langzeitprojekt Ihrer Galerie zwischen 2006 und 2019 wird auch auf der NordArt zu sehen sein. Worum geht es da?

Evgen Karas: Bei diesem Projekt geht es darum, dass es immer eine technische Barriere zwischen Kunstwerk und Betrachter gibt, weil Künstlerinnen und Künstler mit künstlerischen Materialien arbeiten, die dem normalen Publikum in der Regel nicht zugänglich sind. „A4 Ballpoint“ bricht diese Barriere auf, indem mit Kugelschreibern gezeichnet wird, die haben alle in der Tasche. Auf normalem Druckerpapier, das liegt auf jedem Schreibtisch. Es zeigt sich, dass die Ausdrucksstärke von Kunst nicht von den Kosten und Eigenschaften professioneller Materialien abhängig ist, sondern vom künstlerischen Denken, das sich auch der einfachsten Mittel zu bedienen weiß. Über die lange Projektlaufzeit haben wir mit über 7.000 Blättern die weltweit größe Sammlung von Kugelschreiberzeichnungen aufgebaut. Vertreten sind nicht nur Beiträge aus der bildenden Kunst, sondern auch Noten, literarische Texte, und Design- und Architekturentwürfe. Ein Querschnitt durch eine Periode der jüngeren Kulturgeschichte. Aus der Sammlung wollen wir ein Museum für Kugelschreiberzeichnungen machen und das Projekt auch außerhalb der Ukraine fortführen, begleitet von einem jährlichen Essaywettbewerb. Die dicken Mappen kann ich mir kaum vorstellen, wenn wir allein in der Ukraine jedes Jahr 1.000 Zeichnungen einsammeln, ergänzt um fünf kunsttheoretische Texte aus dem Wettbewerb zum Thema des Projektes.

Liebe Darina Momot, lieber Evgen Karas, vielen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch führte: Kristof Warda

Übersetzt (aus dem Englischen): Johannes Warda