Die Schriftstellerin und Netzkünstlerin Zara Zerbe wohnt nach eigenen Angaben in Kiel und im Internet. Im Jahr 2022 erhielt sie den Kunstförderpreis des Landes Schleswig-Holstein. Zur Preisverleihung hielt die Literaturwissenschaftlerin Julia Ingold folgende Laudatio.
Beginnen wir mit einer Bucket-List (für alle, die das noch nie gehört haben: Eigentlich ist die Bucket-List, wörtlich ‚Eimer-Liste‘, eine private oder öffentliche Sammlung der Dinge, die jemand erleben möchte, sie kann aber auch im weiteren Sinne eine Liste sein mit Dingen, die Teil eines bestimmten Vorhabens sein sollen) und das wären hier:
- Abergläubische Menschen (Menschen und Figuren, die den fiktionalen Pakt ernst nehmen)
- Hellseher*innen mit mittelmäßigen Fähigkeiten
- Tarotkarten und die sogenannte Zukunft
- Lokale Auswirkungen des Klimawandels in der Gegenwart
- Hexen und andere verdächtige Frauen
- Die Aufklärung, die den Mythos abgeschafft hat und dadurch selbst zum Mythos geworden ist
- Taugenichtsfiguren, die keine Männer Anfang/Mitte 20 sind, sondern Frauen, die sich dem Verwertungskreislauf entziehen
- Freundschaft als romantische Beziehung
- Globale Verwertungskreisläufe, z. B.: Wo landet eigentlich Elektroschrott aus Europa?
- Diese sehr unangenehme Phase um die Männer-Fußball-WM 2006 herum
- Problemwölfe
- Problemkatzen
- Polarforschung
- Eissorten aus gängigen Supermärkten

Diese Bucket-List schmückt als Teaser den Buchrücken von Zara Zerbes 2021 beim Kieler stirnholz Verlag erschienenen Novelle Das Orakel von Bad Meisenfeld. Heute möchte ich mich zu ihnen gesellen, zu diesen abergläubischen Menschen, den Menschen und Figuren, die den fiktionalen Pakt ernst nehmen, den Hellseher:innen – jedoch hoffentlich mit passablen Fähigkeiten – und den Hexen und anderen verdächtigen Frauen, die Zara Zerbes Geschichten bevölkern: indem ich selbst einen Orakelspruch tue. Ein Zauber beginnt mit den Vorstellungen davon, was sich in Zukunft materiell manifestieren könnte. Sie, verehrte Jury, haben begonnen, einen Zauber zu wirken, indem Sie Zara Zerbe ausgewählt haben. Den nächsten Schritt des magischen Rituals werden gleich Sie, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Daniel Günther, vollziehen, wenn Sie ihr die Urkunde überreichen. Und weil die entscheidende magische Praxis, wie sowohl Autor:innen als auch ihr Publikum wissen, in der Sprache geschieht, möchte nun ich meinerseits eine Bucket-List vortragen: der Dinge, die in Zara Zerbes Vorstellungswelten schon vorhanden sind und die ich auch in ihren zukünftigen Werken sich manifestieren sehe.
Zara Zerbe steht gerade als studierte Literaturwissenschaftlerin und Binge-Leserin (für alle, die mit dem Begriff nicht vertraut sind: Die Vorsilbe ‚Binge‘ ist ein Anglizismus, der aus dem englischen Begriff ‚Binge-Drinking‘ für ‚Koma-Saufen‘ in andere Gebiete entführt wurde), sie steht vor einem Problem: Es ist eigentlich schon alles geschrieben. Was soll es noch Neues geben unter der Sonne? Und erst die Sonne, die ist auch ein Problem: Wieso sollte eine noch schreiben, wenn bald höchstwahrscheinlich alle Bücher und alle Bildschirme verbrennen oder versinken? Zara Zerbe schreibt – nichtsdestotrotz. Sie findet Wege, diese Probleme der Vanitas zu bannen, indem sie ihre exzessiven Lektüren in Texte verwandelt. Das gelingt ihr – und nun folgt mein Orakelspruch (meine Liste) – mit:
- Witzigkeit von romantischen Ausmaßen
- Ironie im klassischen Sinne
- Flâneuses und anderen Emanzipationen
- Den utopischen Dimensionen von Abgrund und Unbehagen
- Der gebührenden Respektlosigkeit vor dem Erhabenen
- Lassen Sie mich das ein wenig ausführen, damit sich die Magie entfaltet:
Julia Ingold