Donnerstag, 28. März 2024

Kreuzfahrt und Nachhaltigkeit. Geht das zusammen?

ThemaKreuzfahrt und Nachhaltigkeit. Geht das zusammen?

Die Kreuzfahrt-Branche boomt seit Jahren. Stetig steigende Umsätze und Gästezahlen erhielten erst durch die Pandemie einen abrupten Dämpfer. Inzwischen läuft das Kreuzfahrtgeschäft wieder und wird schon bald auf seinem alten Wachstumskurs zurück sein. Branchen-Experte Arne Wölper erklärt im Gespräch mit Kristof Warda, welche Rolle das Thema Nachhaltigkeit in der Kreuzfahrtindustrie spielt und welche Möglichkeiten der Einflussnahme die Destinationen dabei haben.

Lieber Herr Wölper, trotz Corona-Delle scheint die Kreuzfahrtindustrie weiterhin der größte Wachstumsmarkt im Tourismus-Sektor zu sein. Kreuzfahrten erfreuen sich ungebrochen größter Beliebtheit, gleichzeitig polarisiert die Branche wie kaum eine andere, wenn es um Klimaschutz, Nachhaltigkeit und Massentourismus geht. Kreuzfahrt und Nachhaltigkeit. Geht das überhaupt zusammen?
Arne Wölper: Das geht sehr gut zusammen. Dass Debatten über Klimaschutz und Nachhaltigkeit im Tourismus geführt werden, ist erstmal wichtig und richtig. Doch sollte man sie sachlich führen und vor allem einen differenzierten Blick wahren. Die Kreuzfahrtindustrie besteht aus zahlreichen Akteuren und Wettbewerbern weltweit, die nicht alle über einen Kamm zu scheren sind. Es gibt unbestreitbar Reedereien, die sich nicht sonderlich um Nachhaltigkeit bemühen. Andere Reedereien legen hingegen sehr großen Wert darauf, die verschiedenen UN-Nachhaltigkeitsziele für ihre Flotte zu verfolgen und zu erreichen. Ja, es ist sogar so, dass in Bezug auf Nachhaltigkeit in der Schifffahrt viele Impulse und Innovationen aus dem Kreuzfahrtsegment kommen.

Können Sie da Beispiele nennen?
Von Seiten der Gesetzgebung hat der Druck auf die gesamte Schifffahrt in den vergangenen Jahren zugenommen, zum Beispiel den Schwefelgehalt in den Abgasen zu reduzieren. Im Kreuzfahrtsegment kam zusätzlich der mediale Druck hinzu, und auch der Druck der Kundschaft. In der Frachtschifffahrt ist das weniger der Fall. Hinzu kommt noch, dass einige Reedereien ganz deutlich erkennen, dass es sich beißt, wenn sie mit schönen Naturerlebnissen werben und dann nicht nachhaltig sind. Hurtigruten wäre da ein Beispiel, die verfolgen eine Nachhaltigkeitsstrategie, unter anderem, weil sie mit ihren relativ kleinen Schiffen in die sensibelsten Gebiete der Erde fahren – in die Arktis und die Antarktis. Sie arbeiten aktuell zum Beispiel daran, ihre Schiffe komplett plastikfrei zu halten. Das heißt, sie gehen ausnahmslos jeden Prozess durch und machen ihn plastikfrei – da ist die Mineralwasserflasche für den Landgang nur die Spitze des Eisbergs. Hurtigruten hat auch Schiffe mit großen Batterieanlagen ausgestattet, um in bestimmten Gewässern emissionsfrei fahren zu können.
AIDA, als Beispiel für eine Reederei mit relativ großen Schiffen, arbeitete schon lange an einem LNG-Antrieb und brachte 2018 schließlich das erste komplett mit LNG betriebene Kreuzfahrtschiff auf den Markt. Zuvor hatte es erstmal viele Jahre gedauert, bis man die Technik an Bord bekommen hat und es entsprechende Normen und Zulassungen dafür gab. Das war eine Rieseninvestition, doch das Unternehmen sagt klar: Das ist nur eine Übergangslösung. Man muss also in langen Zeiträumen denken und man muss bereit sein, viel Geld in die Hand zu nehmen. AIDA ist profitabel genug, um sich leisten zu können, so etwas voranzubringen. In der Frachtschifffahrt sieht man, dass das funktioniert, und LNG wird auch dort nun immer häufiger als Übergangstechnologie genutzt.

Sie sagen Übergangstechnologie. Was kommt danach?
Manche Reedereien setzen auf grün produziertes Methanol. Das ist in den notwendigen Mengen allerdings noch nicht vorhanden, doch MSC Cruises hat verkündet, komplett darauf umzustellen. Die werden sich nun Partner suchen, Lieferketten aufbauen und durch ihre Nachfrage auch die Produktion ankurbeln. Momentan gibt es noch zwei weitere Brennstoffe, die in Zukunft grün – also in der Regel über erneuerbare Energien und chemische Prozesse – produziert werden können: Ammoniak und Wasserstoff. Die drei Stoffe verhalten sich allerdings sehr unterschiedlich und auch ihre Anwendung unterscheidet sich voneinander. Nehmen wir Wasserstoff: Sie brauchen sehr hohen Druck und sehr niedrige Temperaturen. Methanol ist da einfacher zu lagern und hat eine höhere Energiedichte, ist aber, wie gesagt, noch nicht in ausreichenden Mengen grün herstellbar. Ammoniak kann auch grün produziert werden, ist aber wiederum sehr giftig, was natürlich auch ein gewisses Risiko birgt, an dessen Minimierung man arbeiten muss, gerade für Kreuzfahrtschiffe mit mehreren tausend Menschen an Bord. AIDA wird zudem auf dem nächsten Schiff eine Testanlage für einen Brennstoffzellenantrieb an Bord haben. Noch ist diese Antriebsform, die bei U-Booten schon eingesetzt und dort allerdings mit schwarzem Wasserstoff betrieben wird, aber für große Schiffe unbezahlbar.
Diese drei Brennstoffe werden in den nächsten zehn Jahren weiterentwickelt werden. Welcher sich dann durchsetzen wird, da wage ich keine Prognose. Alles in allem ist zu beobachten, dass der Wille in der Branche – wie gesagt, nicht bei allen, aber doch bei einigen – da ist, und dass sich etwas tut. Nur tut es sich langsam, zum Teil aufgrund langer Entwicklungszeiträume und Zulassungsverfahren. Hinzu kommt, dass Kreuzfahrtschiffe langlebige Investitionsgüter sind.

Was bedeutet das?
Ein Kreuzfahrtschiff wird im Durchschnitt mindestens 30 Jahre genutzt. Die großen Reedereien fahren ihre Schiffe zum Teil viel länger und rüsten sie auch mit dem nach, was nachrüstbar ist. Manches lässt sich aber leider nicht so einfach nachrüsten: Eine Abgasnachbehandlungsanlage zum Beispiel ist sehr voluminös, die lässt sich nicht auf allen Schiffen nachträglich einbauen, insbesondere nicht auf den älteren. Und das heißt, die Reederei kann die höchsten Nachhaltigkeitsziele nicht auf die gesamte Flotte anwenden, auch wenn sie es möchte und das Geld dazu hat. Andere Reedereien haben einfach nicht die Mittel, Millionenbeträge in die Nachrüstung ihrer Flotte zu stecken.
Das können wir jetzt gut finden oder nicht, aber als Destination können wir sagen: Dann möchten wir eure Schiffe nicht bei uns haben. Als Destination können wir sogar noch viel mehr tun: Wir können Mindestanforderungen in Sachen Klimaschutz und Nachhaltigkeit stellen und wir können uns die Reedereien genauer anschauen. Wir können feststellen, wer sich engagiert und mit diesen ausgewählten Reedereien eine Zusammenarbeit oder gemeinsame Modellprojekte anstreben.
Im Übrigen ist ja die Abgas- und Antriebsdiskussion nur ein Aspekt von ökologischer Nachhaltigkeit. Dass dieser Aspekt die öffentliche Debatte über die Kreuzfahrtindustrie prägt, das ist unter anderem der Verdienst des Naturschutzbundes e.V. (NABU) und anderen Umweltschutzorganisationen. Wir sollten aber auch in dieser Branche auf weitere ökologische und nicht zuletzt auf die sozialen und ökonomischen Aspekte von Nachhaltigkeit schauen. Und auch hier haben die Destinationen einen Hebel, indem sie Standards von den Reedereien verlangen.

Sie haben schon das plastikfreie Schiff erwähnt. Können Sie einige weitere Aspekte herausgreifen?
Wir können uns den Umgang mit Müll an Bord anschauen: Wird da versucht, Müll zu vermeiden, wird recycelt, oder läuft der sogenannte Incinerator, also die Müllverbrennungsanlage an Bord, ständig? Oder nehmen wir mal das Nachhaltigkeitsziel Nummer sechs, “Sauberes Wasser und sanitäre Einrichtungen”. Das ist selbstverständlich ein Nachhaltigkeitsziel an Land. Aber wir können trotzdem mal aufs Schiff schauen: Auf einem Kreuzfahrtschiff haben Sie Abwassernachbehandlungsanlagen, die auf sehr engem Raum sehr hohe Leistung bringen müssen. Grundsätzlich sind solche Anlagen vorgeschrieben. Die müssen aber auch funktionieren. Ein Beispiel von einer Reederei, für die ich mal gearbeitet habe: Die hatten auf einem Schiff hinter der Abwasseraufbereitungslage einen Auslass angeschlossen, der führte das Wasser in ein Aquarium, in dem ein Goldfisch lebte. Und der wurde nicht alle drei Tage ausgetauscht. Das sollte demonstrieren, wie gut die Anlage funktionierte. Das heißt, State-Of-The-Art-Anlagen, wenn sie richtig betrieben werden – was nicht einfach ist – machen das Abwasser so sauber, dass Sie es bedenkenlos ins Meer leiten können. Die immer noch bessere Lösung ist: Sie sammeln das Abwasser und pumpen es an Land ab. Das geht an vielen Häfen der Ostsee. In anderen Destinationen, zum Beispiel in der Karibik, geht das aber nicht, weil es in den Häfen die entsprechenden Anlagen gar nicht gibt. Als Destination kann ich mich entweder um die Entsorgung des Abwassers an Land bemühen, was eine große Investition ist, oder ich setze den Reedereien Standards, was die Abwasseraufbereitung an Bord angeht und nehme in Kauf, dass das gereinigte Abwasser dann außerhalb der 12-Meilen-Zone ins Meer geleitet wird.
Oder nehmen wir Ziel Nummer acht: “Menschenwürdige Arbeit”. Menschenwürdige Arbeit an Bord kann man sehr trefflich unterschiedlich definieren. Es gibt Mindeststandards, die von der internationalen Arbeiterorganisation ILO gesetzt werden. Jede Reederei sollte zumindest diese Standards einhalten (was nicht immer der Fall ist). Jede Reederei sollte dafür sorgen, dass die Arbeit auf ihren Schiffen menschenwürdig ist – dass die Arbeitszeiten eingehalten werden, dass Unterkunft und Verpflegung stimmen. Darüber hinaus wird es dann zum Teil schwierig. Ist eine Vierbettkabine menschenwürdig, wenn man viele Monate an Bord leben muss? Sind 800 Dollar im Monat, bei freier Kost und Logis, ein menschenwürdiges Einkommen? Das wird auch von Arbeitenden ganz unterschiedlich eingeschätzt, hängt zum Teil auch davon ab, aus welchen Ländern die Leute kommen – und wie viel dieses Einkommen in ihrer Heimat wert ist. Aber ganz grundsätzlich hat die Destination die Möglichkeit, das zu hinterfragen, und in Erfahrung zu bringen, wie eine Reederei mit ihren Mitarbeiter:innen umgeht.
Ein weiteres Beispiel aus dem Bereich der ökonomischen Nachhaltigkeit passt zum Ziel Nummer elf, “Nachhaltige Städte und Gemeinden”. Da geht es um die Wertschöpfung: Es gibt Kreuzfahrtgesellschaften, die anstreben, jeglichen Konsum durchs eigene Portemonnaie laufen lassen. Andere Gesellschaften hingegen sagen sich ganz klar: Wenn ich eine Destination anlaufe, dann muss ich auch einen Teil der Wertschöpfung dort lassen und die Destination in mein Touristikkonzept integrieren.
Es lässt sich also darauf schauen, wie eine Reederei mit der Destination umgeht: Will sie zum Beispiel nur möglichst billig ihre Ausflüge verkaufen oder möchte sie die Destination mitfördern? Oder anders ausgedrückt: Wenn eine Kreuzfahrtreederei eine Fahrradtour anbietet, dann kann sie das mit ihrem Entertainment-Mitarbeiter machen. Der guckt sich das vorher ein bisschen an und fährt dann vorweg. Als Destination kann ich der Reederei aber auch eine Fahrradtour mit entsprechend geschulten und sprachlich versierten Tourist Guides anbieten. Ich muss also auch etwas anzubieten haben, wenn ich Wertschöpfung vor Ort haben möchte.
Venedig ist ein gern gewähltes Beispiel in diesem Bereich: Die Schiffe kommen morgens, übervölkern die Stadt und hauen dann wieder ab, ohne Geld dazulassen. Das ist eine einseitige Sichtweise, denn durch Hafengebühren und durch Besuche von Sehenswürdigkeiten lassen sie natürlich Geld dort, auch wenn die Touristen an Bord übernachten und sogar nur an Bord essen sollten. Eines können wir uns dabei aber fragen, und das sollte man auf Seiten der Destination berücksichtigen: Kommt das Geld der Bevölkerung der Stadt zugute oder geht es nur an irgendwelche Agenturen und bleibt dort?

Ich spitze mal zu: Kreuzfahrttourismus ist keine Plage, von der man als Destination heimgesucht und der man machtlos ausgeliefert ist. Sondern vielmehr eine beidseitige Angelegenheit: Es gibt Reedereien, die sich entweder mehr oder weniger um Wertschöpfung für die Destination bemühen, und für Destinationen gibt es den Hebel, zum Beispiel nur mit denjenigen zusammenzuarbeiten, die das tun. Das muss aber in der Destination selbst erreicht werden – dort muss offen und transparent sein, wie die Wertschöpfung aussieht und auch, welche zum Beispiel ökologischen Anforderungen man setzt? Richtig. Das ist ein Wechselspiel. Natürlich kann eine Destination eine Reederei nicht zwingen, eine Abgasnachbehandlungsanlage einzubauen. Das ist Sache der Reederei und für diese mit erheblichen Kosten verbunden. Die Destination kann aber Standards setzen und sagen, was sie akzeptiert und was nicht. Sie kann zum Beispiel sagen: Wir akzeptieren nur noch Closed Loop Scrubber (eine spezielle Form der Abgasfilterung). Das kann natürlich dazu führen, dass gar kein Schiff mehr kommt. Das gehört auch dazu, das muss aber die Destination für sich entscheiden. Noch einmal das Beispiel Hurtigruten: Dass Hurtigruten Schiffe mit Batterieanlagen ausgestattet hat, hängt auch damit zusammen, dass Norwegen ganz klar sagt, in die Fjorde dürfen fürs erste nur noch LNG-betriebene Schiffe und perspektivisch wollen wir gar keine CO2-Emissionen mehr durch Schiffe in den Fjorden.
Das bringt uns zu der Frage, wie sich Reedereien, aber auch ihre Gäste, der Natur und der Destination nähern: Sagen wir, ein Schiff geht in der Flensburger Förde vor Anker und bietet für seine Gäste Wasserski an: Ohne Rücksicht und mit viel Krach immer um die Ochseninsel herum. Oder aber man gestaltet das Programm leiser und nachhaltiger: Man lässt die Schlauchboote mit Elektroantrieb zu Wasser und bringt die Gäste auf die Insel, wo sie von einem lokalen Guide herumgeführt werden. Wie also konsumiere ich Tourismus? Laut und rücksichtslos oder mit Respekt vor dem, was die Natur und die Destination bieten. Man muss ja auch bedenken – selbst die schönste Destination verliert viel von ihrem Reiz, wenn sie vollkommen überlaufen ist. Beispiel Dubrovnik: Hier hat man sich in einem sehr schmerzvollen Prozess auf die Reduzierung der Kreuzfahrschiffe und der Gäste pro Tag geeinigt. Und der Touristenstrom wird am Tag zusätzlich noch gestaffelt, sprich: die eine Reederei bringt ihre Gäste früher an Land, die andere dann später. Das entlastet die Stadt und ihre Bewohner – aber es steigert nicht zuletzt auch qualitativ das Erlebnis der Gäste.

Bleiben wir mal in Schleswig-Holstein. Auch hier stecken wir ja in mitunter recht schmerzvollen Prozessen: Sei es in Kiel, wo es regelmäßig zu aktivistischen Protesten kommt, in Eckernförde, wo die Bucht für Kreuzfahrtschiffe gesperrt wurde, oder zuletzt in Flensburg, wo eine Grundsatzdebatte geführt wird.
Dass solche Prozesse manchmal schmerzvoll sind, kann wohl nicht ganz ausbleiben, und die geführten Debatten malen oft ein ziemlich schwarz-weißes Bild vom Kreuzfahrttourismus. Aus dem bisher Gesagten geht aber hoffentlich hervor, dass es möglich ist, sachlich zu differenzieren und dass die Destination durch die Setzung von Standards einen großen Hebel zur Hand hat.
Wichtig ist aber schon, dass die Entscheidung für oder gegen Kreuzfahrtschiffe – und wenn für, dann mit welchen Standards – in einem möglichst breiten Konsens in der Bevölkerung vor Ort getragen wird, nicht nur in Politik, Verwaltung und meinetwegen Wirtschaft, sondern auch in den anderen Bereichen der Destination, Bewohner:innen und Gruppen, die vielleicht nicht unmittelbar vom Tourismus profitieren. So etwas darf nicht in Hinterzimmern ausgeklüngelt werden, solche Entscheidungen müssen offen und transparent diskutiert und unter breiter Beteiligung herbeigeführt werden. Am sinnvollsten ist es, zusammen mit Fachleuten, die beide Seiten sehen, einen Standard als Diskussionsgrundlage zu erarbeiten – also zum Beispiel nur Schiffe mit bis zu 1.000 Passagieren, nur schwefelarm, was in der Ostsee sowieso schon Standard ist, Closed-Loop-Scrubber-Abgasreinigung oder sogar nur LNG – womit man übrigens die Anzahl der möglichen Schiffe zumindest aktuell noch radikal verkleinert. In fünf oder zehn Jahren könnte das anders aussehen. Und dann vor Ort Aufklärungs- und Informationsarbeit leisten.

Sie nannten die Beispiele Dubrovnik und Venedig – oder auch die norwegischen Fjorde. Beliebte Destinationen mit Weltruf, die Standards gesetzt haben. Hatten diese es dabei einfacher als Destinationen, die sich erst international bekannt machen wollen?
Nicht unbedingt. Sie können ja den Standard auch willentlich so hoch setzen, dass de facto erstmal kein Schiff kommen wird. Wenn aber der Wille da ist, Kreuzfahrtdestination zu sein, dann ist es auch als relativ kleine und noch nicht so bekannte Destination möglich, Reedereien zu finden, die nicht nur die touristischen Hotspots bedienen möchten, sondern an einem sehr speziellen, individuellen und attraktiven touristischen Angebot interessiert sind. Unter denen gibt es viele, die sehr offen und empfänglich für nachhaltige Entwicklung sind, Standards erfüllen können mit denen man zum Beispiel auch gemeinsam Pilotprojekte entwickeln kann. Da werden ja auch nicht gleich 100 Schiffe auf einmal kommen. Deswegen erst der Blick darauf, was man als Destination möchte: Welche Schiffsgröße kommt in Frage, dann, welche Reedereien könnten dazu passen…

Was ist Ihre Einschätzung zum Kreuzfahrt-Land Schleswig-Holstein? Was würden Sie den Destinationen raten?
Konkret für Schleswig-Holstein sollten wir auch einen Blick auf die Zielgruppe werfen und wir sollten auf die unterschiedlichen Ansprüche der Destinationen schauen. Zur Zielgruppe: Als Gäste kommen wohl in erster Linie internationale Tourist:innen in Frage. Entsprechend sprachlich versierte Guides wären also wichtig. Menschen aus den anderen Bundesländern besuchen Schleswig-Holstein eher selten von der See aus. Ein Trend in der Branche, der seit einigen Jahren anhält, geht zu kleineren Schiffen mit Angeboten im höherpreisigen Segment. Darauf lohnt sich der Blick für Schleswig-Holsteinische Destinationen: Wenige Anläufe pro Jahr, mit relativ wenigen Gästen, die aber durchschnittlich stärker zur Wertschöpfung vor Ort beitragen als die Pauschaltourist:innen auf den riesigen Linern.
Hinzu kommt die Unterscheidung zwischen Wechselhafen und Destination. Kiel zum Beispiel ist ein Wechselhafen. Das heißt, hier beginnen und enden Kreuzfahrten für die Gäste. Dafür benötigt man eine entsprechende Infrastruktur – zum Beispiel das Kreuzfahrtterminal, um die Besuchsströme und Abfertigungen zu managen. Man benötigt vielleicht einen Shuttle-Service und man muss mit zigtausend Koffern pro Tag klarkommen. Das wären riesige Investitionen. Andere Häfen in Schleswig-Holstein eignen sich auch wegen der Verkehrsanbindung kaum zum Wechselhafen, die in Kiel noch recht gut ist, da der Bahnhof in der Nähe ist. Für Wechselhäfen gilt, dass hier in der Regel nicht viel Programm vor Ort und schon gar nicht im Hinterland geplant oder nachgefragt ist. Die Leute reisen in der Regel an, gehen an Bord, und los geht´s. Die Wertschöpfung für den Ort läuft in erster Linie über die bereitzustellende Infrastruktur. In Hamburg sieht es da etwas anders aus – Hamburg ist Wechselhafen und Destination. Hier starten und enden Kreuzfahrten, die Stadt wird aber auch regelmäßig als Destination angelaufen. Eckernförde, Flensburg, Lübeck oder auf Nordseeseite Sylt zum Beispiel, sind reine Destinationen, also Stopps des Schiffes auf der Route. Bei einigen wird sogar nur getendert – das heißt, die Schiffe legen nicht am Hafen an, sondern die Gäste werden mit den Beibooten an Land gebracht.
Destinationen benötigen ein attraktives Angebot für die Gäste, und da ist es sicherlich sinnvoll, auch mit dem Umland zusammenzuarbeiten, da Reedereien ihren Gästen immer eine Auswahl an Aktivitäten anbieten. Von Flensburg aus könnte zum Beispiel mit einer entsprechenden Tour die Grenzregion erfahrbar werden, grenzübergreifend. Auch das Nolde-Museum oder Schleswig samt Landesmuseum, Haithabu und Danewerk sind erreichbar. Die Destination muss eng mit dem Umland kooperieren und um die zweifelsohne sehr attraktiven Sehenswürdigkeiten für internationale Gäste bekannt und schmackhaft zu machen, ist gutes Marketing erforderlich. Auf entsprechenden Messen lassen sich die Kontakte zu den Reedereien knüpfen.

Lieber Herr Wölper, vielen Dank für das Gespräch!

Dipl.-Ing. Arne Wölper arbeitet seit über 30 Jahren als Top-Führungskraft in der maritimen Industrie, seit über 12 Jahren als Vice President Deutschlands größter Kreuzfahrtreederei, als Interim Manager und als Berater in der Kreuzfahrtindustrie. Ob es um den nachhaltigen nautisch-technischen Schiffsbetrieb, der weltweit ersten LNG-Versorgung, der Konzeptionierung und Beschaffung des ersten Batteriebetriebenen Flusskreuzfahrtschiffes oder der Entwicklung nachhaltiger, kleiner Kreuzfahrtschiffe geht – Herr Wölper gestaltete viele Transformationen zu mehr Nachhaltigkeit in der Kreuzfahrtbranche und setzte sie in der Praxis um.

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