Freitag, 29. September 2023

Literatursommer Schleswig-Holstein 2023 Niederlande

„Zuhause ist ein großes Wort“

Kulturzeitschrift„Zuhause ist ein großes Wort“

„Sehnsucht nach Zuhause, das gibt nur Tränen.“ Diese Worte stammen aus dem Munde von Nienke Nauta, genannt Skip, die einige Jahre lang die Welt umsegelt hat und nun nach Amsterdam zurückkehrt. Damals war sie 28 Jahre alt. Heute, sieben Jahre später und zurück in der Heimat, ist das allerdings nicht mehr ganz so einfach. Heute ist die Frage für die literarische Heldin in dem Roman „Zuhause ist ein großes Wort“ von Nina Polak (übersetzt von Stefanie Ochel): Gehen oder bleiben?
Eine ewige Frage der Literatur wie des Lebens. Cees Nooteboom, einer der Granden der niederländischen Gegenwartsliteratur, hatte 1954 mit dem Roman „Das Paradies ist nebenan“ debütiert, er thematisierte damals die Suche der Hauptfigur nach der Verkörperung der Poesie. In den 1980er und 1990er Jahren erlebte Nooteboom, der sich nach langjähriger Abstinenz 1980 mit dem Roman „Rituale“ wieder der Prosa zugewandt hatte und in diesem Sommer ein neues Buch „In den Bäumen blühen Steine“ vorlegt, zahlreiche große Erfolge. Neben ihm begründeten – mit Schwerpunkt um das Jahr 1993, als die Niederlande gemeinsam mit Flandern zum ersten Mal Ehrengast der Frankfurter Buchmesse war – mit Autorinnen und Autoren wie Harry Mulisch („Die Entdeckung des Himmels“), Maarten ´t Hart („Das Wüten der ganzen Welt“) oder Margriet de Moor („Erst grau dann weiß dann blau) – eine „goldene Zeit“ der niederländischen Literatur auf dem deutschen Buchmarkt.
Während des Literatursommers Schleswig-Holstein im Jahr 2006, als schon einmal die Niederlande Gastland waren, kamen einige der großen Autorinnen und Autoren zu Gast in den Norden, zum Beispiel Margriet de Moor oder Anna Enquist. Es kamen aber auch jüngere Autoren wie Arnon Grünberg und Maya Rasker nach Schleswig-Holstein.
Im Sommer 2023 präsentiert das Literaturhaus Schleswig-Holstein zum 28. Mal den Literatursommer Schleswig-Holstein, zum 27. Mal einen Länderschwerpunkt.

Das Programm Literatursommer war 1995 mit einer „Langen Nacht der Literatur“ in Wedel gestartet, das Motto lautete damals noch „Weltliteratur aus Schleswig-Holstein“ – 1996 war dann mit Österreich erstmals ein Gastland ausgewählt worden. Bis 2013 orientierte man sich an der Länderauswahl des Schleswig-Holstein Musik Festivals. Seitdem wurden eigene Impulse gesetzt, Länder wie Dänemark, die Schweiz oder Irland waren in den vergangenen Jahren unter anderen zu Gast. In diesem Jahr wieder die Niederlande. Warum zum zweiten Mal? Weil eine neue, spannende Generation von Erzählerinnen und Erzählern zu entdecken ist, und auch weil eine intensive Auseinandersetzung mit der Dekolonialisierung die Gesellschaften beider Länder dies- und jenseits von Ems und Dollart gleichermaßen beschäftigt. Auch unter diesem Aspekt lohnt sich der Blick auf die gesellschaftlichen und literarischen Diskussionen im Nachbarland.
Insgesamt werden in diesem Jahr 29 Veranstaltungen von 14 Künstlern an 22 Orten zwischen Föhr und Lübeck, zwischen Flensburg und Lauenburg durchgeführt. Die Lesungen finden in Büchereien und Buchhandlungen, Museen und Rathäusern, Akademien und Bürgerhäusern statt, aber auch in Windmühlen und Segelcamps.


In der Ferne spielt Marente de Moors aktueller Roman „Phon“ (übersetzt von Bettina Bach). Der Roman fragt vor allem, ob die Wildnis für den zivilisationsmüden Westen eine Art Ersatzreligion sei. Marente de Moor erzählt mit beeindruckender Intensität von einer Frau auf der inneren Flucht vor sich selbst und vor den Geschichten, mit denen wir versuchen, unser Leben zu erzählen. „Erzähl mal“, flüsterte sie, „wie machst du das? Dein Wissen auslöschen, dein Hirn ausschalten? Das wollen wir schließlich alle, die wieder an Märchen glauben.“ Mit diesem Roman wird Marente de Moor den Literatursommer am 9. August in Meldorf eröffnen.
Ein großes Lebensbild entworfen hat die niederländische Autorin Lisa Weeda in ihrem Roman „Aleksandra“ (übersetzt von Birgit Erdmann). Sie schreibt über das Leben ihrer Großmutter, die aus der Ukraine stammt, genauer gesagt aus der Gegend von Luhansk. Von den Nazis wurde sie zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert, wo sie einen Niederländer kennenlernte, dem sie nach dem Krieg in dessen Heimat folgte. Lisa Weeda erzählt nun ihre Geschichte. Wie sagt die Großmutter Alexandra: „Man kann nicht immerzu nur Abschied nehmen, man muss auch weitergehen können.“ Das passt doch gut zur modernen niederländischen Literatur diesen Jahres.
Ebenfalls die Schichten des Lebens legt der niederländische Autor Marcel Möring in seinem Roman „Amen“ frei (übersetzt von Helga van Beuningen). „In diesem Karton habe ich aufbewahrt, was ich vergessen habe, dass wir abends durch das sinkende Licht ans Meer fuhren, […] und du sagtest, dass unsere Ehe niemals dürr und trocken sein würde […]“ Samuel Hagenau, der Protagonist dieses Romans, ist Archäologe in der Nähe von Westerbork, dem ehemaligen Durchgangslager für niederländische Juden auf dem Weg in die Konzentrationslager der Deutschen. Mitten im Naturschutzgebiet entdeckt er ein ausgebranntes Autowrack, darunter eine Leiche. Während er versucht, die Zusammenhänge zu begreifen, taucht er immer tiefer ein seine eigene Vergangenheit. „Wir suchen, was wir nicht finden. Wir finden, was wir nicht suchen.“
Die Lösung für das Rätsel in dem neuen Kriminalroman von Mathijs Deen liegt weit in der Vergangenheit. „Der Taucher“ (übersetzt von Andreas Ecke) spielt in der Deutschen Bucht zwischen Föhr, Wilhelmshaven und Texel, und der deutsch-niederländische Ermittler Liewe Cupido hat den Tod eines Tauchers aufzuklären. Mathijs Deen war bereits im Februar zur Buchpräsentation in Kiel, und in diesem Sommer reist er zwischen Pellworm und Eutin, zwischen Flensburg und Neumünster durch den Norden. Große Teile des Romans spielen auf Föhr, wodurch er besonders gut geeignet ist für diesen Literatursommer Schleswig-Holstein.
Wie immer im Literatursommer gibt es außer der niederländischen Literatur auch in diesem Jahr noch Weiteres rund um niederländische Kultur und Politik zu entdecken: Einen Blick auf die Niederlande als touristische Destination gibt die Bestseller-Autorin Monika Peetz mit dem zweiten Band ihrer Reihe „Sommerschwestern – Die Nacht der Lichter“. Der Roman, der in Bergen aan Zee an der niederländischen Nordseeküste spielt, erzählt die Geschichte von vier Schwestern, die nach vielen Jahren noch einmal an den Urlaubsort ihrer Kindheit in Nordholland zurückkehren und dabei dem rätselhaften Tod ihres Vaters damals auf den Grund gehen. Denn: „Er hat uns auch schöne Dinge hinterlassen – die Liebe zu Holland.“


Die Niederlande haben große Spuren in Schleswig-Holstein hinterlassen. Dazu zählt u. a. die Gründung der Stadt Friedrichstadt, deren Giebelhäuser und Grachten der Stadt heute noch eine niederländische Anmutung verleihen. Vor allem aber zählt dazu die Landgewinnung an der Westküste, die wesentlich von niederländischen Kolonialisten betrieben wurde. Die Neusiedler hinterließen natürlich neben ihrem Wortschatz auch andere Spuren in Sprache und Literatur des Nordens. Ein Vortrag von Robert Langhanke zu „Klaus Groth und das Niederländische“ gibt hierzu wertvolle Hinweise.
Der Amsterdamer Fotograf Jeroen Hofman betrachtet in einer Foto-Ausstellung mit dem Titel „Eiland“ die Westfriesischen Inseln immer von einem Kran in 20 Metern Höhe. Neue Perspektiven garantiert. An einem Familiennachmittag findet eine multimediale Lesung aus dem Kinderbuch „Seesucht“ der Amsterdamer Künstlerin Marlies van der Weel statt. Oder man besucht die Lesungen von Nils Aulike mit Ausschnitten aus der reichen niederländischen Kolonialliteratur (Indonesien, Surinam, Antillen), die einen Blick auf die Diskussion von Dekolonialisierung und Wiedergutmachung werfen und die Suche der entwurzelten Menschen und ihrer Nachfahren nach „Heimat“ thematisieren.
Mit diesem Begriff ist die Heimat der Niederländer ebenso gemeint wie die Heimat der Menschen in den Kolonien bzw. der durch Zwang dorthin Verbrachten und ihrer Nachfahren. Einige dieser Bücher könnte man daher vielleicht besser als anti-kolonialistisch bezeichnen. Und für den Leser bleibt am Ende immer noch die Frage: Welche Heimat habe ich und wenn ja, wieviele? Den Schlussakkord auf dieser literarischen Reise durch die Gegenwartsliteratur der Niederlande setzt Nina Polak, wenn sie sich auf hoher See an die Menschen ihres Lebens erinnert: „Ich nehme sie bei der Hand, ziehe sie an Deck, umarme sie, werfe die Leinen los, setze die Segel und fahre mit ihnen dem leeren Himmel entgegen.“


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