Wildpflanzen im Jahreslauf. Teil 2: Sommerwonne

„Nun die Sonne …“ – Sommerflora im Spiegel von Mythologie und Volksglaube

Wildgemüse im Jahreslauf

Teil II: Sommerwonne

Ewiger Kreislauf von Werden, Wachsen, Vergehen und Wiederentstehen. Seit Menschengedenken beeinflussen die Jahreszeiten Natur und Kultur gleichermaßen. Ihr Reigen entsteht durch den Einfallswinkel der Sonne. Unser Planet ist um 23,5 Grad geneigt, und da diese Neigung stets in dieselbe Richtung weist, fallen im Sommer die Sonnenstrahlen steiler und im Winter flacher auf die Erdoberfläche. Das beschert uns in den gemäßigten Breiten Frühling, Sommer, Herbst und Winter – und wieder Frühling, der im letzten Heft Thema war.

Diesmal nun soll es um die Märchen, Mythen und Sagen des Sommers gehen. Um die Glut der Sonne, ihr Licht und ihre Wärme auf der Höhe ihrer Bahn. Kurz bevor die Tage wieder kürzer werden und die Zeit der herbstlichen Ernte herannaht. In dieser Zeit der lichten Fülle befindet sich die Pflanzenwelt auf dem Höhepunkt ihrer Kraft. Überall rankt und sprießt das wilde Gekraute durch die Fugen der Zivilisation. Und unter dem Pflaster liegt bekanntlich der Strand. Auch diesmal werden einige typische heimische Wildpflanzen der Jahreszeit hinsichtlich ihrer Mythologie und Verwendung beispielhaft vorgestellt und uns so in einem neuen, wärmeren Licht erscheinen, als es rein naturwissenschaftliche Abhandlungen zu leisten vermögen. Denn direkt vor unserer Haustür beginnt die Reise ins Reich der Elfen und Unterirdischen, was keineswegs platt disneyhaft gemeint sein soll.

Unsere Welt ist beseelt, sie ist mehr als ein stupider Mechanismus. Wer das bezweifelt und verlacht, schätzt sich selber gering und verleugnet sein Bewusstsein. Zahlreiche auf vorindustrielle Zeiten zurückgehende Volksüberlieferungen begegnen der Natur auf Augenhöhe und zollen ihr den angemessenen Respekt, der gerade in der heutigen globalisierten Welt für das Überleben unserer Spezies unbedingt erforderlich wäre. Schärfen wir also unsere Aufmerksamkeit durch einen erquickenden Trunk aus dem sommerlichen Born der Vergangenheit.

Astronomisch ist die Sommersonnenwende um den einundzwanzigsten Juni der heute festgelegte Beginn der Jahreszeit Sommer. Denn dann steht das Tagesgestirn auf dem Höhepunkt seiner Bahn. Kurz die Nacht, lang der Tag. Danach nimmt die tägliche Lichtdauer wieder zusehends ab, bis sie zur Wintersonnenwende ihren finstersten Tiefpunkt erreicht. Je näher man den Polen rückt, desto stärker ist dieses Phänomen bemerkbar. Am Rande der Polarkreise sinkt die Sonne an Mittsommer für einen ganzen Tag nicht unter den Horizont. An den geographischen Polen ist das sogar für ein halbes Jahr der Fall, man spricht von Polartagen und -nächten. Die Dämmerung dauert dort mehrere Wochen. Auch im nördlichen Europa ist es um Mittsommer niemals vollständig dunkel. Mitternachts liegt ein fahler Schimmer über Land und Meer, das Sonnenlicht ist erkennbar als schmaler Silberstreif am Himmel. Als „Weiße Nächte“ bezeichnet man diese Zeit, die in Deutschland ansatzweise im nördlichen Schleswig-Holstein beobachtet werden kann.

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Welf-Gerrit Otto

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