Sehnsucht und wieder Sehnsucht: Fanny zu Reventlow

Ein Leben zwischen Kunst und Tragik: Nach einem Zerwürfnis mit ihrer Familie wurde die in Husum geborene Fanny zu Reventlow in der Münchner Boheme um 1900 zur „Gräfin von Schwabig“. Vor einhundert Jahren starb sie am Ufer des Lago Maggiore.

Ein Unfall, wie er auch heutzutage überall stattfinden kann: Mit dem Fahrrad ist Franziska Gräfin zu Reventlow am 25. Juli 1918 am Ufer des Lago Maggiore unterwegs. Hier lebt sie seit gut acht Jahren, oberhalb der schicken Stadt Ascona auf dem Monte Verità. Der Berg war zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts ein Treffpunkt von Aussteigern, Vegetariern und Veganern, Lebenskünstlerinnen und Lebenskünstlern, ja einer besonderen Art der künstlerischen Bohème. Die beiden Siebenbürger Künstler und Aussteiger Gusto und Karl Graeser begründeten einige Jahre zuvor das Leben und Wirken auf dem bis dato unbebauten Gelände. Hier trafen sich über unter anderem der Maler Richard Seewald, der Bildhauer Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp, Hans Richter, Erich Mühsam oder auch Hermann Hesse.

Vom Monte Verità gingen Impulse in verschiedene Richtungen aus – Bildhauerei, Malerei, Architektur und Dichtkunst wurden genauso belebt wie das Leben und Arbeiten in der Natur, die Freikörperkultur oder der Veganismus. Zu der anarchischen, inspirierenden Kolonie pilgern Suchende aus ganz Europa. Zu ihnen gehört die junge Gräfin Fanny Liane Wilhelmine Sophie Auguste Adrienne Gräfin zu Reventlow wie sie mit Taufnamen heißt. An der Hand ihren zwölfjährigen Sohn Rolf betritt sie, von München kommend, 1910 den Monte Verità. Der Grund war ganz banal. Keine künstlerische Suche, kein Aussteigertum. Ihre finanzielle Situation ist schlicht mehr als miserabel. Ein Freund aus Schwabinger Tagen, der Schriftsteller Erich Mühsam gibt ihr den entscheidenden Tipp. Um sich finanziell zu konsolidieren, soll sie den lettischen Adeligen Alexander von Rechenberg-Linten zum Schein heiraten.

Gesagt, getan. Doch das Vorhaben scheitert. Der angeheiratete Schwiegervater durchschaut das Manöver; als er stirbt, frisst eine Finanzkrise das Vermögen auf. Fanny verarbeitet die Erfahrungen beim Schreiben, wie sie es schon immer getan hat. Bereits 1903 erschien ihr erster Roman Ellen Olestjerne. Der Text ist autobiographisch geprägt durch ihre Herkunft und die vergangenen Lebensjahre. Aus dem Schloss vor Husum wird im Roman das Schloss Nevershuus. Denn hier, an der Nordseeküste, wird die Gräfin am 18. Mai 1871 geboren. Ihr Vater ist Landrat und somit in preußischen Diensten tätig. Fannys Kindheit ist geprägt von Auflehnung, die Brüder dürfen, was sie nicht darf.

Ihre Erziehung ist so, wie es sich für Töchter aus höherem Hause nach damaligem Gusto geziemt. Der sechste Geburtstag kam und brachte ihr die erste, schwere Enttäuschung. Als sie aufwachte, wollte sie die Kleider von Erik anziehen, denn jetzt war sie doch ein Junge und wollte auch verzogen und bewundert werden. Aber sie wurde nur entsetzlich ausgelacht, selbst der Vater lachte mit, und dann erfuhr sie, daß sie für immer ein Mädchen bleiben müßte. So umschreibt sie die Situation in Ellen Olestjerne.

Später zieht die Familie nach Lübeck. Fanny interessiert sich für die Kunst, hauptsächlich Literatur und Malerei. Immerhin kann sie ihren Vater davon überzeugen, Lehrerin zu werden. Die Ausbildung schließt sie erfolgreich ab. Doch arbeiten soll sie nach dem Willen ihres Vaters in dem Beruf nicht. Was tut Fanny? Sie seilt sich ab, im wahrsten Sinne des Wortes. Nachts flieht sie aus dem ersten Stock des väterlichen Hauses nach Hamburg.

Fanny zu Reventlow heiratet zum ersten Mal, zieht zunächst nach München und studiert Malerei. Gleichzeitig erscheinen die ersten Texte von ihr in den Husumer Nachrichten. Mit ihren Malkünsten kann sie nicht reüssieren, aber sie publiziert und veröffentlicht weiter fleißig, unter anderem im Simplicissimus. Sie hat Affären, Schwärmereien, lebt die freie Liebe, verliebt sich, trennt sich, lernt weitere Männer kennen. Ihr einzig überlebender Sohn wird geboren, Rolf. Den Namen des Vaters verschweigt sie zeitlebens, aber der Sohn wird ihr Augenstern. Alles hängt an ihm, all meine Liebe und all mein Leben und die Welt ist wieder herrlich für mich geworden, voller Götter und Tempel und blauer Himmel darüber, schreibt sie in ihren Tagebüchern anlässlich der Geburt. Aber Fanny ist krank, körperlich zermürbt, depressiv und ständig in Geldnot. Sie arbeitet an Übersetzungen, um über die Runden zu kommen. Über den Schriftsteller Ludwig Klages gerät sie in Kontakt mit Karl Wolfskehl und mit dem Dichter Stefan George. Schwabing ist in diesen Jahren der künstlerische Meltingpot par excellence. Man trifft sich in Salons, auf Partys, in Cafés, diskutiert, feiert und liebt. In diesen Kreisen verkehrt sie und wird natürlich auch die dortigen Erfahrungen in einem Roman verarbeiten.

Fanny zu Reventlow ist trotz aller Probleme hochgeachtet, gilt als selbstbewusst und kämpferisch, als avantgardistische „heilige Heidin“. Sie sieht sich darin nicht abgewertet, ganz im Gegenteil: Bitte, keinen Entrüstungsschrei! Die Hetären des Altertums waren freie, hochgebildete und geachtete Frauen, denen niemand es übelnahm, wenn sie ihre Liebe und ihren Körper verschenkten, an wen sie wollten und so oft sie wollten und die gleichzeitig am geistigen Leben der Männer mit teilnahmen. Das schreibt sie in ihrem Essay Viragines oder Hetären. Franziska, wie sie sich nun nennt, plädiert für eine selbstbestimmte Sexualität jenseits aller Konventionen. Aber ach, alle Beziehungen und alle Geschäfte scheitern. Allein literarisch hat sie Erfolg. Um zu überleben bleibt dann nur der Umzug nach Ascona, aus dem Schwabinger künstlerischen Umfeld ist das neue, ebenso exzentrische Umfeld am Lago Maggiore.

Hier verfasst sie nun ihre wichtigsten Bücher: Von Paul zu Pedro, der ihre amourösen Abenteuer behandelt und satirisch die Art und Weise, wie sich Männer als vermeintliche Liebhaber gerieren aufs Korn nimmt, ihr wohl bekanntestes Werk Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil über das Leben der Schwabinger Bohème und die Kreise der Kosmiker um Klages und Wolfskehl und um George sowie Der Geldkomplex, in dem es natürlich um die nach der Scheinehe verlorene Erbschaft geht.

Dass ihr Sohn im Ersten Weltkrieg eingezogen werden muss, zerbricht ihr fast das Herz. Sie verhilft ihm zur Desertation über den Bodensee in die neutrale Schweiz. Ihr Leben spielt sich ab in einer Spannung, von Tragik und Kunst und ihrer satirischen distanzierten Art, wie sie die eigenen Erfahrungen literarisch verarbeitet. Unser Dasein steht hier natürlich im Zeichen des Bankerotts, und auch das hat seinen Charme, schreibt sie so sarkastisch wie für ihr Leben programmatisch im Geldkomplex.

Doch die Gesundheit macht ihr bleibende Sorgen. Den Tod aber findet sie eben in jenen letzten Julitagen vor genau hundert Jahren bei einer Fahrradtour. Sie stürzt, verletzt sich schwer und stirbt während der Notoperation im Spital in Locarno. Dabei wollte gerade Fanny zu Reventlou, getrieben von Sehnsucht nach Liebe, nach Kunst, nie an Tod und Sterben denken. //

Martin Lätzel
www.martin-laetzel.de