Wo warst Du Fridays vor 30 Jahren?

Seit Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 tritt staatliches Handeln für viele Menschen deutlicher zutage, als jemals zuvor in ihrem bisherigen Leben. Hier und da hatten alle natürlich auch im Alltagstrott vorpandemischer Zeiten mit Politik, Gesetzen und deren verwaltungstechnischer Umsetzung zu tun. Aber das lief oft eher so nebenbei, fast unmerklich, und war eben normal, solange es nichts Schlimmes betraf. Die Geschwindigkeit, mit der Entscheidungen getroffen wurden, die alle betrafen, war dagegen neu. Gerade in den ersten Wochen der Pandemie mussten diese Entscheidungen laufend angepasst und kommuniziert werden. Plötzlich war von Gesetzen und Vorkehrungen die Rede, von denen man höchstens in Planspielen gehört hatte. Die Maßgaben des Infektionsschutzgesetzes legten sich wie ein Filter über alle alten Gewohnheiten. Die Allgemeinverordnungen wurden zu Spielregeln einer neuen Normalität, in der vieles zwar möglich blieb, aber immer komplizierter wurde. Bald tauchten erste Fragen auf: Wieso dürfen die das eigentlich? Ist das überhaupt demokratisch? Je länger die Ausnahmesituation andauerte, desto unwohler fühlten sich die gewählten Repräsentanten mit den sogenannten Corona-Maßnahmen (aber auch „Hilfen“) – beschlossen von einem Gremium aus Bundeskanzlerin und Länderregierungen, das im Grundgesetz gar nicht vorgesehen ist. Die Parlamente forderten ihre Mitsprache und damit im Zweifel auch ihren Vorbehalt ein. Während jedoch Kultureinrichtungen, Gastronomie und Einzelhandel heruntergefahren wurden und Schulen in einem nervenaufreibenden Auf-Zu-Modus operieren mussten, waren das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit wohl am wenigsten eingeschränkt: Vielerorts sorgten Demonstrationen für oder gegen die Pandemiepolitik für einige mediale Aufmerksamkeit.
Inzwischen gibt es mit Impf- und Öffnungsstrategien eine Perspektive, wie es in der neuen Normalität weiter gehen könnte. Die Grundsatzfrage aber ist geblieben: Was macht die Pandemie mit den demokratischen Strukturen unseres Gemeinwesens? Eine der möglichen Antworten könnte sein: Sie rückt sie wieder stärker ins Bewusstsein, insbesondere jene Bereiche, wo neben der Mitwirkung an der politischen Willensbildung über Wahlen auch die unmittelbare Beteiligung bei der Mitgestaltung des näheren Umfeldes gefragt ist. Denn dort wird Demokratie zum Spiel. Eher nicht zu einem Planspiel, sondern zum Spiel des Lebens. Dort ist zu erleben, wie unterschiedliche Interessen im Kompromiss zur Gestaltung des Ganzen beitragen. Dort begreift man, dass Basisdemokratie vor allem Selbstorganisation bedeutet und nie die Diktatur der Mehrheit. Vor Diktatur und Willkürherrschaft schützen die im Grundgesetz verankerten Grundrechte und das Prinzip der Rechtstaatlichkeit. Demokratie in diesem Sinne ist fundamental wertebasiert: Wenn es demokratisch zugeht und irgendjemand oder irgendetwas überstimmt wird, sind diese Werteüberzeugungen noch da – im Geiste der Gesetze, die ihnen Ausdruck verleihen und sie schützen sollen.
Die eine Seite der politischen Teilhabe sind die Elemente repräsentativer Demokratie, insbesondere die Wahlen auf europäischer, Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Mit dem Erreichen des Wahlalters erhält man eine Art Eintrittskarte für die Mitwirkung an der politischen Willensbildung. Oder anders formuliert: Es wird einem die persönliche Reife dafür zugetraut. Dass sich die Ansichten darüber, wann jemand reif genug ist, den Bundes- oder Landtag oder auf kommunaler Ebene zu wählen, durchaus ändern können, zeigt die mehrfache Absenkung des Wahlalters in Deutschland. Gestartet ist die Bundesrepublik mit dem aktiven Wahlrecht ab 21 und der Wählbarkeit im Alter von 25 Jahren. 1970, zu Zeiten der sozial-liberalen Koalition, wurden aktives und passives Wahlalter auf 18 und 21 Jahre gesenkt. Auf kommunaler Ebene dürfen Jugendliche in Schleswig-Holstein seit 1998 ab 16 Jahren wählen. 2013 senkte der Landtag das Wahlalter auch für Landtagswahlen auf 16 Jahre. Die Wahlrechtsreform wurde mit den Stimmen der damaligen Regierungskoalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und SSW sowie der Piratenpartei beschlossen, während sich CDU und FDP fragten, ob 16- und 17-Jährige dafür schon reif genug seien. Das passive Wahlrecht blieb weiterhin bei 18 Jahren. Bei Landtagswahlen können 16- und 17-Jährige ansonsten nur in Brandenburg, Bremen und Hamburg wählen.

Was ist mit den vielen Menschen, die das Wahlalter noch nicht erreicht haben? Die genauso betroffen sind von politischen Entscheidungen? Als Kinder und Jugendliche sind sie gesetzlich besonders geschützt. Und, jetzt wird es interessant, ausdrücklich dazu ermuntert, auch außerhalb von Wahlen, die Welt, in der sie ja auch leben (müssen), mitzugestalten.

Ein Anfang der Entwicklung, Kinder und Jugendliche nicht mehr nur als Betroffene von Entscheidungen wahrzunehmen, sondern sie als Subjekte und gleichwertige Partner bei der Gestaltung der Welt ernst zu nehmen, ist die UN-Kinderrechtskonvention vom Herbst 1989. Das darin verankerte Gebot der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an allen sie betreffenden Fragen führte zu einem fundamentalen Perspektivwechsel und beflügelte gerade in Schleswig-Holstein viele Ansätze auf dem Weg zu einer kinder- und jugendfreundlicheren Gesellschaft. Rückblickend sind die 1990er als regelrechte Boomjahre dieser Entwicklung zu bezeichnen. Unter dem Motto „Schleswig-Holstein – Land für Kinder“ initiierten das Land und das Deutsche Kinderhilfswerk 1989 eine bis heute bestehende Gemeinschaftsaktion und einen Landesfonds mit dem Ziel, die Alltags-, Lebens- und Umweltbedingungen für Kinder zu verbessern und Schleswig-Holstein insgesamt kinder- und familienfreundlicher zu machen. Von Anfang an war es das zentrale Anliegen der Aktion, die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen demokratisch zu gestalten und darüber hinaus Teilhabe an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen zu ermöglichen.
Während die UN-Kinderrechtskonvention von Deutschland 1992 ratifiziert wurde, enthält das Schleswig-Holsteinische Kindertagesstättengesetz von 1991 bereits die Maßgabe, Kinder entsprechend ihres Entwicklungsstandes bei allen sie betreffenden Angelegenheiten zu beteiligen (seit der KiTareform 2021 finden sich die entsprechenden Bestimmungen in § 19 Absätze 4 und 5). 1996 verankerte Schleswig-Holstein als erstes Bundesland die Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen in der Kommunalverfassung, die in der Folge vor allem in der Bauleitplanung bei der Erarbeitung kommunaler Entwicklungskonzepte zum Tragen kamen. Aber auch die Einrichtung von Kinder- und Jugendbeiräten spielt in den Kreisen und Kommunen seit den 1990er Jahren eine wichtige Rolle. Mit der Novelle des Schulgesetzes von 1998, in der die drittelparitätische Besetzung der Schulkonferenz mit Lehrkräften, Eltern, Schülerinnen und Schülern festgeschrieben wurde, erfuhr schließlich das schulische Umfeld als junge Menschen wesentlich prägende Sphäre eine weitere Demokratisierung.

In den 1990er Jahren wurden aber nicht nur weitreichende Möglichkeiten der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen geschaffen. Junge Menschen in ihren Entwicklungsphasen sollten auch aktiv darin bestärkt werden, sich einzubringen. Aus diesem Grund bildet Schleswig-Holstein seit 1997, auch das war damals deutschlandweit einmalig, Moderationskräfte für die Partizipation von Kindern und
Jugendlichen berufsbegleitend aus und weiter. Einmalig ist wohl auch die Qualifizierung der Beteiligungskultur in den KiTas zu nennen, die seit 2001 in verschiedenen Projekten unter dem Motto „Kinderstube der Demokratie“ betrieben wird. Viele Projekte haben in den vergangenen Jahrzehnten dazu beigetragen, dass sich in Schleswig-Holstein flächendeckend Beteiligungsstrukturen etabliert haben. Bei Silke Löbbers von der Servicestelle Kinder- und Jugendbeteiligung im Sozialministerium laufen die Fäden zusammen. In einer Kooperation mit dem Landesbeauftragten für politische Bildung werden hier zum Beispiel die örtlichen Kinder- und Jugendvertretungen koordiniert. Diese Gremien werden alle zwei Jahre landesweit gemeinsam gewählt. Im November ist es wieder soweit. Gefragt nach der Ge-schichte und den Hintergründen der landesweiten Koordinierung kann Löbbers auf die lange Kontinuität der Stelle im Sozialministerium verweisen. Und auf das Engagement der Akteure aus den Anfangsjahren, darunter ihr Vorgänger Klaus Meeder, der das Thema Kinder- und Jugendbeteiligung 20 Jahre begleitet und weiterentwickelt hat. Einem Pionier und wesentlichen Stichwortgeber der allerersten Stunde, Dieter Tiemann, Referatsleiter im Ministerium, wurde nach seinem frühen Tod 1998 sogar ein Preis gewidmet, der den Kern des Ganzen in seinem Titel so programmatisch wie präzise zusammenfasst: „für Kinderfreundlichkeit und Alltagsdemokratie“.

Jugendkreistag

Zum Beispiel der Kreis Ostholstein etablierte Anfang der 1990er Jahre mit dem „Jugendkreistag“ ein regionales Format der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Zusammen mit Jugendverbänden bereitete die Verwaltung verschiedene Themenkomplexe vor, die in Ausschüssen und im Plenum beraten wurden. Die Teilnehmer*innen wurden von den SVen der weiterführenden und berufsbildenden Schulen entsandt. Beim ersten Jugendkreistag 1995 tauschten sich junge Menschen der Klassenstufen 5 bis 13 zu Drogenpolitik, ÖPNV und Politikverdrossenheit aus. Es stand ein Budget im Kreishaushalt zur Verfügung, das vom Plenum für Projekte eingesetzt werden konnte. Die Beschlüsse flossen zur Kenntnis zurück an die Verwaltung. Zeitweilig bildete sich aus den Jugendkreistagen heraus ein Jugendbeirat, dessen Mitglieder in den Kreisausschüssen zu Themen der Bildungspolitik, Kinder- und Jugendhilfe und ÖPNV Stellung nehmen konnten.
Eine Aufforderung des Jugendkreistags Nordfriesland an die Deutsche Bahn AG, die Verhältnisse auf der Marschbahn zu verbessern, wurde 1996 sogar in einer verkehrspolitischen Landtagsdebatte zitiert. Auf der folgenden Seite erinnert sich Johannes Warda an den Beginn der Ostholsteiner Jugendkreistage 1995.

Meine Name ist Johannes Warda. 1995 war ich 11 Jahre alt.

Ich habe mitgemacht, weil: Als Klassensprecher einer 5. Klasse erfuhr ich über die SV vom Jugendkreistag und habe mich einfach gemeldet, dahin zu gehen.

Den Austausch und das Miteinander mit Erwachsenen (in Ämtern und Institutionen) finde ich bis heute bemerkenswert. Die Kreisverwaltung und die Kreistagsmitglieder in den Ausschüssen bei späteren Jugendkreistagen begegneten den Jugendlichen mit einer selbstverständlichen Wertschätzung und Offenheit für deren Fragen und Vorschläge. Man traf sich einfach am Kreishaus und wurde von Margret vom Jugendamt oder einem Ausschussmitglied irgendwohin im Kreis mitgenommen. Und es ging beileibe nicht nur um Spielplätze und Strandpartys. Die wurden natürlich auch organisiert – im Rahmen eines Jugendgremiums in einem Flächenkreis gar nicht so einfach.

Besonders interessiert haben mich die Themen Fehmarnbeltquerung, Tourismus und als Fahrschüler natürlich der ÖPNV. Aber auch der Erfahrungsaustausch mit dem dänischen Partnerkreis.

Eine besondere Erfahrung, die mich bis heute begleitet: Als 11-Jähriger war ich beeindruckt von der Begegnung mit den mir wesentlich älter erscheinenden Jugendlichen, die sich für eine liberalere Drogenpolitik einsetzten und gleichzeitig sehr eloquent über Suchtprävention sprachen. Viel diskutiert wurde auch über Jugendarbeitslosigkeit und soziale Ungleichheit. Und natürlich die Verbesserung des ÖPNV.
Wir haben viel über Kompromissfähigkeit erfahren und dass es einen langen Atem braucht, Positionen und Vorschläge in sinnvoller Art und Weise auch umzusetzen. Und wir haben, so hoffe ich jedenfalls, ein Verständnis von Demokratie kennen gelernt, von dem ich vor dem Hintergrund der aktuellen Krisenerscheinungen immer noch sagen kann: Entdecken wir das neu, was wir haben. Gehen wir einfach abends zu einer dieser vielen Versammlungen und entscheiden mit. Lassen uns in den Gemeinderat wählen. Oder den Betriebsrat. Gründen eine Initiative.
Als der Jugendkreistag einmal mit der Methode Zukunftswerkstatt gearbeitet hat, schielten alle auf die „Umsetzungsphase“ am Ende. Die konkreten Themen für die weitere Arbeit blieben an der Pinnwand hängen und es ging einfach weiter. Wir waren, so fühlte sich das damals an, voll dabei und nicht einfach nur Teil einer Simulation.

Jugend im Landtag

Zur Veranstaltung „Jugend im Landtag“ kommen jährlich 45 Jugendliche im Alter zwischen 16 und 21 Jahren im Kieler Landeshaus zusammen. Die Delegierten werden von den Mitgliedsverbänden der Jugendringe und den allgemein- und berufsbildenden Schulen benannt; freie Bewerbungen sind ebenso möglich. Im Kern geht die Veranstaltung auf eine Anregung des Landtagsabgeordneten Trutz Graf Kerssenbrock (CDU) aus dem Jahr 1984 zurück, angelehnt an das Planspielformat des Deutschen Bundestages „Jugend und Parlament“. Im Internationalen Jahr der Jugend 1985 fand „Jugend im Landtag“ erstmals statt – und seitdem bis heute jedes Jahr. Das Selbstverständnis der Veranstaltung, die Fragen von Repräsentation und Legitimation sowie das Verhältnis zur Landespolitik wurde in den verschiedenen Jahrgängen stets kontrovers diskutiert. In über 30 Jahren hat sich ein Format entwickelt, für das die Teilnehmenden die Themen- und Arbeitskreise eigenverantwortlich vorbereiten. Das „Planspiel“ wird als Abendprogramm bereits während der Vorbereitungstagung abgehandelt; die Plenarsitzung dient dann ganz der inhaltlichen Auseinandersetzung und als Forum des Austausches mit dem Landtag. Als Gäste dabei sind auch Mitglieder des aktuellen Altenparlaments (und umgekehrt dort auch Jugendliche von „Jugend im Landtag“ ). Zu den Plenumsbeschlüssen nehmen alle Fraktionen Stellung und legen dar, inwiefern diese in die politische Arbeit einfließen. 1999 nahmen Marco Vietor und Sarah Keppler an „Jugend im Landtag“ teil und berichten auf den folgenden Seiten über ihre Erfahrungen und das, was sie aus ihrer Zeit aktiver Beteiligung mitgenommen haben.

Mein Name ist Marco Vietor. 1999 war ich 19 Jahre alt

Ich habe mitgemacht, weil ich schon damals politisch interessiert war. Ich war in meiner Heimatstadt Flensburg Mitglied der Jugendratsversammlung und auch Mitglied und Vorsitzender der Jugendorganisation einer politischen Partei (Junge Union in Flensburg). Bei Jugend im Landtag mitzumachen war da nur logisch. Das war auch noch einmal eine interessante Abwechslung zum eher lokalpolitischen Fokus in Flensburg – landespolitische Themen. Ergänzend habe ich auch ein Jahr zuvor an der deutschen Auswahlsitzung des Europäischen Jugendparlaments teilgenommen – interessanterweise fand das zufällig auch in Kiel statt. Das war die europäische Perspektive. Wir haben uns mit dem Euro beschäftigt, zu dessen Einführung damals vieles noch nicht geregelt war.

Besonders interessiert haben mich die Themen Finanzen, weil mich auch damals die Frage der Nachhaltigkeit öffentlicher Haushalte beschäftigt hat.

Den Austausch und das Miteinander mit Erwachsenen (in Ämtern und Institutionen) habe ich so erlebt: In Flensburg wurden wir mit der Jugendratsversammlung sehr ernst genommen. Wir hatten regelmäßigen inhaltlichen Austausch mit dem Stadtpräsidenten, den Fraktionsvorsitzenden und dem Oberbürgermeister. Wir waren vollwertige Gesprächspartner. Das war eine tolle Erfahrung. Wir haben aber auch gute Arbeit gemacht und zu vielen Themen Vorschläge eingebracht, die im erweiterten Sinne die Jugend betrafen. Auf lokaler Ebene ist das ziemlich viel.

Eine besondere Erfahrung war, dass ich hier von „wir“ schreiben kann, weil es eine ganze Gruppe von Leuten aus meiner Altersstufe gab, die sich dort engagiert hat. Das hat Spaß gemacht und dazu geführt, dass noch mehr Leute mitgemacht und sich alle noch mehr engagiert haben. Ein sich selbst verstärkender Effekt.

Gesellschaftliches Engagement, Mitbestimmung in politischen Prozessen und Teilhabe im Vergleich zu 1999 erlebe ich heute als weniger stark ausgeprägt als damals. Vielleicht waren wir damals auch die Ausnahme. Vielleicht nehme ich Veranstaltungen wie „Jugend im Landtag“ heute nicht mehr wahr, obwohl sie stattfinden. Aber intuitiv würde ich sagen, dass Jugendliche heute weniger an politische Prozesse glauben als wir damals.

Mein Name ist Sarah Keppler. 1999 war ich 18 Jahre alt.

Ich habe mich als Klassensprecherin, Schulsprecherin und Vertreterin der dänischen Minderheit im Landesvorstand der Landesschülervertretung der Gymnasien und Gesamtschulen in Schleswig-Holstein (LSV) und bei Operation Dagsværk (das dänische Pendant zum Sozialen Tag) als Jugendliche engagiert.

Ich habe mitgemacht, weil: Hm. So richtig kann ich das gar nicht beantworten. Mit der Wahl zur Klassensprecherin hat wohl alles angefangen und dann kam irgendwie eines zum anderen. Schulsprecherin zu werden war irgendwie logisch, weil man eh ständig etwas organisierte, machte, ins Leben rief. Da konnte man sich auch noch kurz vor die versammelte Schüler- und Lehrerschaft stellen und Mitteilungen machen, zu Projekten aufrufen, Informationen weitergeben. Die Wahl zum Landesvorstand der LSV kam, weil mich mein Vorgänger David Hopmann fragte. Damals bin ich ein Wochenende lang zum Landesschülerparlament in der Toni-Jensen-Schule in Kiel mitgefahren und habe mich irgendwie in die ganzen Leute verliebt, wollte Sonntagnachmittag nicht mehr ohne sie sein. Ich hatte Seelenverwandte gefunden. Wir haben bis spät in die Nacht zusammen gesessen, für uns lebenswichtige Themen besprochen, dafür argumentiert, Pläne, Strategien entwickelt. Da war Gemeinsamkeit, Kampfgeist, Miteinander. Die Themen waren wichtig (Überarbeitung der Lehrpläne in Schleswig-Holstein, Legalisierung von Marihuana, kein G8, keine Ganztagsschulen…). Wir sind von der Politik ernst genommen worden, zu Rate gezogen worden, hatten ernsthafte Diskussionen, Auseinandersetzungen, interessante Themen, für die wir kämpften und uns einsetzten. Ein bisschen erinnert mich alles an Fridays for Future heute: Man findet Gleichgesinnte und hat Überzeugungen, Ideen, klare Vorstellungen von richtig und falsch und streitet dafür. Die Schule hat sowohl die Arbeit in der LSV als auch das Engagement bei Operation Dagsværk voll unterstützt. Zwar gab es keine offiziellen Regeln oder Beschlüsse, aber mein Direktor stand immer hinter mir und hat geholfen, wenn ich Hilfe brauchte. Es fühlte sich wichtig an.

Besonders interessiert haben mich die Themen Schule, Lehrpläne, Dauer der Schule, Drittelparität, Mitbestimmung, Naturschutz, Hilfe für andere, weil diese Themen meinen direkten Lebensraum betrafen. Es war wichtig, gegen das Abi nach 12 Jahren vorzugehen, weil wir direkt in der Schule waren und wussten, dass es wichtig ist, Freizeit zu haben, rumzuhängen, erwachsen zu werden. Wir wussten, dass es scheiße ist, von morgens bis abends in die Schule zu gehen und noch mehr Themen in noch weniger Zeit zu lernen, weil man selbst, als Mensch in seiner Persönlichkeitswerdung, auf der Strecke bleiben würde. Es waren Themen, die uns direkt betrafen und daher wichtig waren.

Den Austausch und das Miteinander mit Erwachsenen (in Ämtern und Institutionen) habe ich so erlebt: Also bei mir gab es natürlich an erster Stelle die Zusammenarbeit mit meiner Schule (Duborg-Skolen, Flensburg) und die war richtig gut. Ich durfte Computer, Telefon und Fax jederzeit benutzen, finanzielle Auslagen wurden übernommen, es wurden Raum und Zeit gegeben, um Aktionen und Projekte zu machen. Für Operation Dagsværk wurde ein ganzer Schultag zur Verfügung gestellt. Die Lehrer haben das voll unterstützt. Ansonsten war da im Landesvorstand natürlich viel Kontakt zum Bildungsministerium. Auch dieser Kontakt war sehr gut. Zur Ministerin, zum Staatssekretär, zu den anderen Abgeordneten im Bereich Bildung. Die haben uns gefragt, zugehört, mit uns diskutiert und zumindest damals hatte ich wirklich den Eindruck, dass sie auf uns hörten, uns ernst nahmen und ihre Meinung änderten, wenn wir überzeugten.

Eine besondere Erfahrung war zum einen meine Teilnahme bei Jugend im Landtag. Wir hatten ein Treffen in einer Jugendherberge an der Schlei und sollten das Spiel Ökolopoly spielen. Die Rollen als politische Vertreter wurden per Los entschieden. Ich sollte eine konservative Meinung vertreten und zum Beispiel für Atomkraft argumentieren. Mich hat das so angekotzt, es entsprach überhaupt nicht meiner Einstellung. Aber nun gut, so ging das Spiel und ich machte mit. Es war am Ende so leicht, in eine andere Rolle zu schlüpfen und für eine andere Überzeugung zu argumentieren. Dieses Erlebnis hat mich viel über Macht und Manipulation gelehrt. Eine weitere Erfahrung war eine Reise mit Heide Simonis und einigen Delegierten mit einer Gruppe Jugendlicher nach Polen – das Jugendtreffen „Czas-Sprung“. Eine Woche lang nach Danzig, Auschwitz und Krakau, bei polnischen Familien gewohnt und das Land kennengelernt. Ich hatte so viele Vorurteile und die Reise war so prägend. In Auschwitz haben wir Sonnenblumen gepflanzt. Ich werde die Eindrücke, die Bilder, nie vergessen.

Was ich mitgenommen habe aus dieser Zeit: Zum einen viele Menschen, die mich begleitet haben, erwachsen zu werden, selbständig, mich zu finden, die mich geprägt haben. Vorbilder, Liebe, Freundschaft. Aber diese verschiedenen Engagements haben mich auch viel über Taktik, Macht, Manipulation gelehrt. Ein Wissen, das für mich heute noch hilfreich ist. Dieses Engagement gehörte ganz selbstverständlich zu meinem Schulleben dazu. Andere sind zum Fußballtraining gegangen, ich habe mich anders ausgetobt. Diese Zeit hat mich gelehrt, fair zu sein und dass Mühe und Einsatz positiv gesehen werden. Sie hat mich auch gelehrt, dass nicht-faires Verhalten gar nicht geht. Und meine Überzeugungen von damals begleiten mich bis heute. G8 geht aus meiner Sicht immer noch gar nicht, die Ganztagsschule halte ich für völlig vermurkst in ihrer Umsetzung. Für viele Überzeugungen von damals würde ich noch genauso einstehen. Die Sicht auf den ganzen Menschen als Person fasziniert mich bis heute. Also, wo geht es nicht nur um Leistung, sondern um Menschwerdung. Ich habe später Erziehungswissenschaft studiert, Schwerpunkt Erwachsenen- und Weiterbildung. Ich wollte mehr über Bildung wissen, aber nicht Lehrerin werden. In der Erwachsenenbildung spiegelt sich genau dieses Menschenbild wider: Welche Bildung gibt es, die nicht auf Zwang und Leistung aus ist, sondern schön ist und gut tut, weil man lernt, inspiriert wird, Menschen trifft?

Mit Blick auf die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen heute denke ich: Das ist schwer zu sagen. Zum einen habe ich das Gefühl, dass die Smartphones so viel Kraft, Denken, Kreativität und Zeit fressen, dass viele Kinder und Jugendliche keinen Überschuss mehr haben, sich mit ihrer realen Welt auseinanderzusetzen. Wie viel Zeit und Kraft hätten sie, wenn das Handy nur für sinnvolle Dinge genutzt würde? Ich kann mit Computerspielen, Kommunikation von Jugendlichen und dem Umgang mit Schule und Freizeit heute nicht viel anfangen. Vielleicht bin ich zu alt. Aber ich komme da nicht mehr mit. Es erscheint mir so ziellos, passiv, abhängend, dass ich schwer damit klar komme. Trotzdem erlebe ich auch immer wieder, dass es noch die Kinder und Jugendlichen gibt, die sich engagieren, die sich für ihre Überzeugungen, ihre Themen einsetzen und etwas verändern oder erreichen wollen, denen Dinge noch wichtig sind und die einen Unterschied machen wollen. Es ist dieses perspektivlose Rumhängen, das ja selbst bei 19-, 20-Jährigen noch ausgeprägt ist, was ich nicht gut vertrage. Dann denke ich manchmal, wacht doch auf! Das hier ist euer Leben, eure Welt – macht was damit! Aber diese Perspektivlosigkeit hat sich häufig schon lange eingeschlichen, kommt vielleicht schon durch die Eltern, keine Förderung, keine Aktivität, keine Erwartungen.

Engagement, Mitbestimmung in politischen Prozessen und gesellschaftliche Teilhabe im Vergleich zu 1998 erlebe ich heute: Ich habe den Eindruck, dass nicht viel Neues passiert. Mit den Schulen im Land ist mit der Einführung der Drittelparität der Weg geebnet worden, dass Schüler*innen einbezogen werden und Stellung beziehen können. Ob sie das nutzen oder wie es an den Schulen aussieht, kann ich nicht beurteilen. Fridays for Future als so prägnantes Beispiel war beeindruckend. Aber haben sich die Jugendlichen am Ende nicht auch von alten mächtigen Politikern instrumentalisieren lassen, die sich mit ihnen geschmückt haben, ohne sie ernst zu nehmen?
Mein jetziger Arbeitsplatz (das Kulturhaus der dänischen Minderheit, Aktivitetshuset in Flensburg), ist ein offenes Haus für alle Altersgruppen. Wir sind unheimlich herausgefordert davon, junge Menschen zwischen 12 und 25 zu motivieren, das Haus zu nutzen und hier kreativ aktiv zu sein. Es ist, als wenn ihnen zehn Sekunden auf Insta oder ein „Gefällt mir“ oder ein „Ich nehme teil“ auf Facebook schon reichen. Der Schritt in die Wirklichkeit braucht dann gar nicht mehr zu sein. Ich frage mich, ob Kinder und Jugendliche heute eigentlich noch, so wie wir damals, wirklich gefragt, einbezogen und ernst genommen werden? Vielleicht bin ich sogar selbst darin nicht mehr gut. Frage die jungen Menschen zu wenig und höre zu wenig zu, biete das, was sie sich wünschen.

Was ich sonst noch mitteilen möchte: Ich denke, dass mich die Jahre, in denen ich mich als Jugendliche engagiert habe, unheimlich geprägt haben. Es hat etwas mit der Art und Weise zu tun, wie man sich ausdrückt, für was man wie argumentiert, dass man für etwas streitet, wovon man überzeugt ist, dass man nicht aufgibt, dass man Erwartungen hat, klare Vorstellungen.
Dass ich mich damals engagiert habe, ist etwas, was ich bis heute schwer ablegen kann. Erst mit meiner zweiten Schwangerschaft habe ich mich aus den Vorständen abgemeldet und habe das Gefühl gehabt, dass jetzt etwas Anderes dran ist. Aber dieses „sich engagieren“ hat man, oder man hat es nicht. Bis heute werde ich gefragt, ob ich nicht zur Wahl stehe für das eine oder andere. Immer wenn Wahlen zur Elternvertretung im Kindergarten anstehen, schicke ich meinen Partner hin – der wird garantiert nicht gewählt. Ich würde sofort gefragt werden. Irgendwie zieht sich das so durch mein Leben. Kassenwart im Ruderclub, Vorstand des Vereins Norden, Vorstand des Landeskulturverbandes und so weiter. Momentan ist die Zeit, in der ich versuche, mich auf mich zu konzentrieren und zu Hause viel los ist. Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen. Aber dann denke ich wieder, da kommen auch andere und die haben jetzt Raum, selbst zu gestalten. Am Ende wird alles gut.

Johannes Warda