„Altes Land“, „Mittagsstunde“ und nun „Zur See“. Mit ihren Romanen ist die Schriftstellerin Dörte Hansen in den letzten Jahren Dauergast auf den Bestsellerlisten der Republik. 2022 erhielt die gebürtige Husumerin den Kunstpreis des Landes Schleswig-Holstein. Die Literaturkritikerin Iris Radisch hielt die Laudatio zur Verleihung im Herbst in Kiel, die Sie hier nachlesen können.
In jüngster Zeit wird sehr viel von den „Abgehängten“ geredet. Gemeint sind damit in der Regel jene Bevölkerungsschichten, die in den deindustrialisierten und entleerten Landstrichen Europas und Nordamerikas auf alten durchgesessenen Couchgarnituren festsitzen und den Anschluss an die Gegenwart verpasst haben sollen. Es ist die Landbevölkerung und es sind die Teilnehmer des auslaufenden Ölzeitalters, die sich mit Twitter, Queer und Co. nicht gut auskennen und deswegen die alte Welt, in der sie einmal zu Hause waren, verständlicherweise „great again“ machen möchten.
Der Stadt-Land-Gegensatz ist im 21. Jahrhundert zu einem der brisantesten gesellschaftlichen Konflikte geworden. Das macht sich nicht nur bei den Wahlen bemerkbar, bei denen überall in Europa die Stadt-Land-Polarisierung eine immer größere Rolle spielt. Das zeigt sich auch in den statistisch nur schwer erfassbaren Bereichen der Kultur, der Literatur und des Lebensstils. In all diesen Bereichen konstatieren die Gesellschaftswissenschaften inzwischen ein kaum noch zu überbrückendes Gefälle und eine wachsende Sprachlosigkeit zwischen den Gewinnern und den Verlierern der sich rasend schnell beschleunigenden digitalen Globalisierung. Darin ähnelt der Stadt-Land-Konflikt der Klimakatastrophe: Beide sind äußerst gut erforscht, werden aber trotzdem immer größer.
Warum erzähle ich das hier, wo es doch um die wunderbaren Romane unser Preisträgerin Dörte Hansen gehen soll? Weil das Thema, das uns allen so unter den Nägeln brennt, auch ihr Thema ist. Weil sie sich dieser Verlierer annimmt. Und weil sie hinsieht und zuhört, wenn die Provinzler in unserer sich rasant verstädternden Welt nicht mithalten können und wie im Roman „Altes Land“ vor sich hin seufzen: „Der Teil der Welt, der noch in Ordnung war, scheint jeden Tag zu schrumpfen“.
Iris Radisch