Der Norden ist relativ

Innerhalb weniger Monate erschienen gleich zwei Sachbücher, die sich mit dem Konstrukt Norden beschäftigen. Grund genug, einmal näher hinzuschauen. Kristof Warda über die Bücher Die Erfindung des Nordens. Kulturgeschichte einer Himmelsrichtung von Bernd Brunner und Eine kurze Geschichte der Nordischen Welt von der Eiszeit bis heute von Michael Engelbrecht.

Im Juli letzten Jahres erschien im Galiani Verlag Berlin Bernd Brunners Buch Die Erfindung des Nordens. Untertitel: Kulturgeschichte einer Himmelsrichtung. Dem gebürtigen Berliner Brunner gefällt es offenbar, „Erfindungen“ auszumachen: 2003 bereits erschien „Die Erfindung des Aquariums“, 2011 schrieb Brunner über die „Erfindung des Weihnachtsbaums“.

Gemeinhin zeichnet sich eine Erfindung dadurch aus, dass es das Erfundene vorher noch nicht gab. Um als Erfindung zu überdauern, sollte es in der Lebenswelt der Erfinder einen gewissen Nutzen haben, dessen sich – ein nicht unwichtiges Detail, man denke an die Dampfmaschine – der Erfinder oder die Erfinderin, mindestens aber ein Beobachter, bewusst ist. Erfinder sind in unserer Vorstellung oft besessene Freaks, die entweder – mit Glück und nach unzähligen Fehlversuchen – zum reichen Genie werden, oder aber privatinsolvent enden.

Für die Erfindung des Aquariums können wir uns ein solches Szenario noch vorstellen: Besessen von der Idee des Meeres im Wohnzimmer experimentiert der Erfinder oder die Erfinderin mit Glasscheiben, Dichtungsmaterialien und Sauerstoffpumpen. Aber für den Weihnachtsbaum? Experimentierte der Erfinder mit Laubbäumen und Lametta, bevor ihm beim Anblick einer Tanne ein Geistesblitz traf? Das ist natürlich Quatsch und eigentlich auch egal. Brunners Erfindungsbücher sind keine Biografien besessener Individuen – vielmehr widmen sie sich einer Idee und ihrer kollektiven Konstruktion. In diesem Sinne stehen sie in der postmodernen kulturwissenschaftlichen Tradition, Phänomene als Konstruktionen zu betrachten, die durch Diskurs und kulturelle Praktiken reproduziert werden. Der Amerikanische Politikwissenschaftler und Historiker Benedict Anderson zum Beispiel betrachtete in seinem 1983 erschienenen Klassiker Imagined Communities Nationen als konstruierte Gemeinschaften, die im Kopf ihrer Mitglieder existieren – von dort aus aber nichtsdestoweniger harte und grausame Realitäten schaffen können. Die deutsche Übersetzung trug den Titel „Die Erfindung der Nation“. Ebenfalls 1983 prägten Andersons Kollegen Eric Hobsbawm und Terence Ranger den Begriff der „erfundenen Tradition“ als Instrument, das neue Konzept der Nation durch angeblich uralte Bräuche und Kleidungsstile in die Vergangenheit hin zu verlängern.

„Aber eine Nation hat doch eine Geschichte, die kann man doch nicht so einfach als erfunden darstellen“, werden manche nun einwenden. Nun, Erfinder hantieren mit Vorhandenem und versuchen, durch geschickte Zusammensetzung etwas Neues zu erzeugen (oder tun das zufällig). So ähnlich kann man sich den Nationenbildungsprozess im 19. Jahrhundert – der übrigens mit der Erfindung der nationalen Geschichtsschreibung einherging – auch vorstellen: Viele (er)findige Historiker hantierten mit historischen Quellen und Begebenheiten, sammelten, sortierten und ordneten sie an auf der in die Vergangenheit gedachte Linie, die die Erzählung von der Nation ist. Sie betrachteten die historischen Ereignisse von ihrem gegenwärtigen Standpunkt aus und projizierten ihre imaginierte Gemeinschaft auf die historischen Akteure, als ob Arminius die Sicherheit Deutschlands im Teutoburger Wald verteidigt hätte.

Auch in der „Erfindung des Nordens“ geht es Brunner nicht um den ersten Kompass, sondern darum, welches Bild sich vom Norden gemacht wurde und wie es sich im Laufe der Jahrhunderte wandelte. Dabei hält er erstmal fest: Der Norden ist relativ.

Michael Engelbrecht kommt gleich zu Beginn seiner „Kurzen Geschichte der Nordischen Welt“ ebenfalls zu diesem Schluss: „Wo der Norden liegt ist immer eine Frage des Standpunkts“. Sein Buch erschien im Oktober 2019 im Gmeiner Verlag. Den Gegenstand seines Buches, die „Nordische Welt“, umgrenzt Engelbrecht dennoch grob „von Grönland bis St. Petersburg und von Hamburg bis Spitzbergen“, um im Verlaufe seines Buches danach zu fragen, wie es hier zu einer relativen regionalen Einheit gekommen ist. Diese regionale Einheit stellt auch Bernd Brunner fest, als er aufzählt, welche der nordeuropäischen Länder einmal zusammengehörten. Dennoch legt er sich nicht auf klare Umrisse des „Nordens“ fest: „Denken wir uns den „Norden“ im Folgenden stets mit Anführungszeichen: Als ein flexibles Konstrukt.“

Spuren des Konstruktes Norden sucht Brunner sogleich in den sprudelnden Quellen des Südens: Er sucht nach Erwähnungen des Nordens bei antiken Geschichtsschreibern, studiert mit uns frühes Kartenmaterial und kosmologische Himmelsrichtungsdeutungen. Auch Michael Engelbrecht beginnt kulturhistorisch mit antiken Quellen, wird aber schnell archäologisch, wenn es um die Anfänge geht.

Ein interessanter Unterschied der beiden Perspektiven fällt auf, als die Autoren auf die Wikinger zu sprechen kommen: Der vor der Buchveröffentlichung verstorbene Michael Engelbrecht war ein großer Ken-ner Nordeuropas und außerdem Experte für interkulturelles Management. Sicherlich geht es auch auf letz-teres Expertentum zurück, dass Michael Engelbrecht uns die Perspektive der „Skandinavischen Landwirte“ näherbringt, die im Sommer zur See fahren und Handel treiben wollten, aber der Versuchung des „kostenloses Einkaufs“ nicht widerstehen konnten, als sie auf „ein Dorf voller Reichtümer trafen, bewohnt von „unbewaffneten Männern, die einen anderen, auf ein Stück Holz genagelten Mann anbeten.“ Während Engelbrecht den Mythos der plündernden Nordmänner verfolgt, geht Bernd Brunner leichtfüßig über die „gefürchteten Raubzüge“ der Wikinger hinweg. Ihm geht es darum, wie über den Norden gesprochen wird und nicht darum, wie der Norden spricht.

Alsbald trennen sich auch die Wege der beiden Betrachtungen: Bernd Brunner buddelt tief in der Europäischen Geistesgeschichte und verfolgt insbesondere die verhängnisvolle Nordenverherrlichung von der Tacitus-Rezeption in der deutschen Klassik bis zur biologistischen Rassenkunde der Moderne. So hygge der Norden heute daherkommt – für ein unter heftigen Minderwertigkeitskomplexen leidendes deutsches Selbstverständnis war (und ist) er willkommenes Gegengewicht zum „welschen“ Süden und Projektionsfläche für eigene Großmachtfantasien. Und bei den Fantasien ist es traurigerweise nicht geblieben, wie wir wissen.

Michael Engelbrechts Buch hingegen gibt einen fundierten Überblick über Mythen, Wendepunkte, Politik und Kultur in der Geschichte der von ihm definierten Region: Invasion der Angeln in Britannien, Schlacht von Bornhöved, Rungholt, Kalmarer Union, Struensee-Affäre, Carl Michael Bellman, ABBA, Schleswig-Holsteinische Frage, IKEA etc.. Quasi als Entr‘acte platziert Engelbrecht, der auch für den Blog „Nordische Esskultur“ schrieb, zwischen den Kapiteln einige Seiten mit Rezepten aus der jeweilig besprochenen Zeit und Region – viel Raum hat dabei auch Flüssiges. Vom „Bier nach Art der Jungsteinzeitbauern“ über die frühneuzeitliche „Schnapstafel“ bis zur heute gepflegten schwedischen Tradition des Krebsessens am spätsommerlichen Kräftskiva-Fest mit dem Ziel des sich planmäßig Betrinkens. //

Kristof Warda

Michael Engelbrecht
Eine kurze Geschichte der Nordischen Welt von der Eiszeit bis heute, Gmeiner Verlag, Meßkirch 2019, 300 Seiten
ISBN 978-3-8392-2472-4
24 Euro

Bernd Brunner
Die Erfindung des Nordens. Kulturgeschichte einer Himmelsrichtung, Galiani, Berlin 2019
320 Seiten
ISBN: 978-3-86971-192-8
24 Euro