SAG NEIN! Wolfgang Borchert

Ein früher Abend, mitten im Winter. Über der Elbe glitzern die Lampen der Ausflugsschiffe. Auf den Pontons an den Landungsbrücken halten sich bei dieser Kälte nur wenig Menschen auf. Über das dunkle Wasser kommt ein Passagierschiff der HADAG gefahren, nimmt Kurs auf Finkenwerder. Der Name des Schiffes: WOLFGANG BORCHERT.
Ein Schiff, auf seiner geliebten Elbe, mitten in Hamburg, draußen vor allen Türen. Der Dichter ist zurückgekehrt ins Herz der Stadt. Sein Vermächtnis lebt zwischen Michel und St. Pauli, zwischen Neuengamme und St. Nikolai. Sein Ruf gellt unverändert laut: SAG NEIN!

Wandern wir durch die Zeit. Blechern klingelt die Glocke über der Eingangstür der Buchhandlung C. Boysen am Heuberg in Hamburg. Ein ungewöhnliches Paar betritt den Laden. Ein älterer Herr, grau meliert, an die fünfzig Jahre alt, mit Brille und strengem Gesicht. Der Mann wirkt zurückhaltend, schaut sich scheu und doch voller Bewunderung für die Schätze zwischen den Buchdeckeln um. Er kennt sich offenkundig mit Büchern aus. Der junge Mann in seiner Begleitung ist das ganze Gegenteil. Vielleicht achtzehn Jahre alt, etwas clownesk. Die knallrote Krawatte trägt er durch einen Siegelring gezogen, die Krempe seines Hutes ist schief abgeschnitten und der weite Mantel wirkt wie aus der letzten Sammlung des Winterhilfswerks. Draußen ist es kalt; der beginnende November hat den Schnee mitgebracht. Das Paar wirkt seltsam entzweit und gehört doch zusammen. Vater und Sohn, vermutet Heinrich Boysen, der gerade damit beschäftigt ist, Bestellungen für die Kundschaft in Packpapier einzuwickeln. Er tritt näher an die beiden heran, wendet sich dem Jungen zu. „Sie wollen also Buchhändler werden?“ Der Junge grinst. „Nein, ich muss!“ Der Buchhändler blickt ernst. Einen Gaukler kann er nicht gebrauchen. Buchhändler wird man nicht aus Zwang, sondern aus Leidenschaft und Begeisterung. Der Vater nickt. Er selbst ist Lehrer an der Volksschule in Hamburg-Eppendorf und gehört zu den Menschen, die zwischen ehrbaren Berufen und verrückten Ideen unterscheiden. Schauspieler sind für ihn verrückt und Buchhändler ein ehrbarer Beruf. Immerhin, der Junge schreibt Gedichte. Wolfgang heißt er, 1921 ist er geboren und er soll – nach mäßigem Schulabschluss – eine Lehre machen. Seine Leidenschaften sind das Schauspiel und der Stepptanz. Er schreibt Gedichte, hat Lust am Lachen. Lustvolles leidvolles Leben soll es sein! Wie ein Bohemien lässt er sich von der Seite fotografieren, nach hinten gekämmtes Haar, die Lesepfeife keck im Mundwinkel.

Wolfgang Borchert 1940, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky

Die Lehre hält ihn nicht lange, die Freiheit ist auch gefährdet. Von der Gestapo wird er eingesperrt. Was er schreibt, und sei es noch so zag- und anfängerhaft, passt nicht in die Zeit, seine Welt ist die Fantasie, seine Führer sind Hamlet und Rilke. Und tatsächlich: die Bühne in Lüneburg will ihn, den jungen Schauspieler. Noch mehr will ihn der Krieg. Doch der Krieg ist grausam und der Widerstandsgeist des Künstlers aktiv. Borchert wird verletzt, verletzt sich selbst, wird vor ein Gericht gestellt. Nach dem Freispruch geht es in die Kälte. Des Nachts plagen ihn die Todesgeister. Die Soldaten sind eingegraben in den russischen Frost. Und jeden Abend vor der Nacht das gleiche Schauspiel: Zählen, was vom Tag noch geblieben ist – wer vom Tag noch geblieben ist. Durch die Träume geht der Tod. Darum schläft man nicht, weil die Toten nachts nicht schlafen. Es sind zu viele. Besonders nachts. Nachts reden sie, wenn es ganz still ist. Nachts sind sie da, wenn das andere alles weg ist. Nachts haben sie Stimmen. Darum schläft man so schlecht. Wer in der Nacht schlecht schläft, kämpft am Tag mit der Müdigkeit. Er wird krank, schwerkrank, bleibt der Clown. Am Vorabend der Entlassung am 30. November 1943 parodiert er auf Stube 32 Goebbels. Beides passt den kommandierenden Herren nicht, sie nennen die Antwort Frontbewährung. In der Ferne wächst die Liebe zu Hamburg. Liebe ist mehr als man denkt und Hamburg ist mehr als eine Stadt. Hamburg! Das ist mehr als ein Haufen Steine, Dächer, Fenster, Tapeten, Betten, Straßen, Brücken und Laternen. Das ist mehr als Fabrikschornsteine und Autogehupe – mehr als Möwengelächter, Straßenbahnschrei und das Donnern der Eisenbahnen – das ist mehr als Schiffssirenen, kreischende Kräne, Flüche und Tanzmusik – oh, das ist unendlich viel mehr. Das ist unser Wille, zu sein. Hamburg, das sind die Schiffe am Kai, die Grüße aus Frisko und aus London, die Seeleute vom Nil und vom Hoangho. Hamburg, das sind die grüßenden Türme der Nikolaikirche und von St. Michaelis. Hamburg, das sind die Alster und die Fleete. Hamburg, das ist die Stadt, die Wolfgang Borchert im Herzen erwärmt hat, im Kampf, auf der Flucht, im Gefängnis, auf dem Weg zurück ins Leben. Hamburg ist Heimat. Der Clown hilft sich selbst auf der Flucht aus der Gefangenschaft zurück nach Hause.

Bei Zollenspieker geht er über die Elbe, trifft die Mutter in Curslack. Doch Hamburg gibt es nicht mehr. Bill Brook wandert durch eine Einöde, findet Entwurzelte allesamt. Von Horn und Hamm, Billbrook und Rothenburgsort ist nur noch Hölle auf Erden zu sehen, die schon deswegen nicht mehr ängstigt, weil selbst von dieser Hölle nur noch Schutt übriggeblieben ist. Da ist das Leid auf den Straßen, die an den Trümmern vorbeiführen. Und das ganze Land liegt in Trümmern und das ganze Land ist Leid. Wolfgang Borchert kehrt zurück als Angehöriger einer Generation ohne Bindung und ohne Tiefe, ohne Heimat und ohne Abschied. Seine Tiefe ist der Abgrund. Nicht nur das Land liegt in Schutt und Asche, alles ist verheert, die Kultur, das Leben. Vielleicht gelingt es, eine Generation der Ankunft zu werden? Eine Generation voller Ankunft auf einem neuen Stern, in einem neuen Leben. Voller Ankunft unter einer neuen Sonne, zu neuen Herzen? Voller Ankunft zu einem neuen Lieben, zu einem neuen Lachen, zu einem neuen Gott? Wo doch der alte so fern war in den Weiten Russlands und den Folterkellern des Regimes.

An einem Donnerstag, dem 20. November 1947, ist Wolfgang Borchert im 3. Stock, Zimmer 200 des Claraspitals in Basel fern der Heimat gestorben. Der Aufenthalt in der Schweiz, der zur Gesundung führen sollte, führte in den Tod.

Die Geschichte Wolfgang Borcherts war damit nicht zu Ende. Eigentlich begann seine Geschichte jetzt erst richtig. Wolfgang Borchert wäre der Säulenheilige der Gruppe 47 geworden. Tragisch, dass er in dem Jahr starb, in dem am 6. und 7. September 1947 am Bannwaldsee bei Füssen die zentrale literarische Bewegung im Nachkriegsdeutschland gegründet wurde. Borchert ist der originäre Vertreter der Trümmerliteratur, zu der auch Schriftsteller wie Günther Eich, nachgerade Mitglied der Gruppe 47, gehörten. Borchert, wie gesagt, war nicht dabei. Wenige Tage nach dem Literatentreff machte sich der auf den Tod Erkrankte auf den Weg zur medizinischen Behandlung nach Basel. Den letzten Brief schreibt Wolfgang Borchert an Carl Zuckmayer, die Einladung zur Mitgliedschaft beim PEN-Club musste er ablehnen. Obwohl erst 26 Jahre alt, war Borchert schon mittendrin im Literaturbetrieb. Bis heute gehören seine Texte zum Literaturkanon, wenn man nicht, wie auch häufig kommentiert wird, die Texte für allzu plakativ, allzu zeitgebunden und vielleicht sogar unausgereift hält. Vielleicht ist das Zupackende dieser Texte geprägt durch die Mutter, Hertha Borchert aus Kirchwerder. Von ihrem Mann inspiriert, findet sie einen Zugang zur Literatur und beginnt, plattdeutsche Texte zu schreiben. Ihre Karriere fällt der Erkrankung Wolfgangs zum Opfer, erst pflegt sie ihn, dann seinen Nachlass. Geblieben ist, viel zitiert und viel bebildert, sein Testament: Sag nein! Aus dem Clown von Eppendorf war der erste Mahner der deutschen Nachkriegszeit geworden.

Martin Lätzel