„Wer ist das, der dem Groth die Töne zu seinen Gedichten schreibt?“

Rezension zu Heiner Egge: Keitum, ich muss dich lassen. Die Lebensreise des Komponisten Gustav Jenner.

Zu seinem 100. Todestag im Jahr 2020 wollte der Verein Kulturerbe Sylt e.V. den in Keitum geborenen Komponisten Gustav Jenner der Vergessenheit entreißen, plante dafür ein eigenes Festival und beauftragte den Schriftsteller Heiner Egge, sich auf Spurensuche zu begeben. Mit pandemiebedingter Verspätung wird das Festival voraussichtlich im Frühjahr 2022 nachgeholt. Heiner Egges Spurensuche hingegen ist bereits als Roman erschienen. Rolf-Peter Carl hat ihn für Sie gelesen.

Das Genre des biografischen Romans liegt diesem Autor. Das Romanhafte ermöglicht ihm die Abschweifungen und Assoziationen, die Anachronismen und Zeitsprünge, die für seine Romane Niebuhrslust, In der Kajüte und Winterreise in den Süden oder Tilas Farben typisch sind. Besonders gern begibt er sich auf die Suche nach „verlorenen Biografien“. Hier geht es um den weithin vergessenen Komponisten Gustav Jenner aus Keitum/Sylt, das „verlorene Inselkind“.

Im Auftrag des Vereins „Sylter Kulturerbe e.V.“ (der auch als Herausgeber des Büchleins zeichnet) geht er dessen Spuren nach. Er – zumindest aber der Ich-Erzähler, den Egge hier wie in anderen seiner Romane vorschiebt – weiß nichts über ihn. Nur durch einen „Zufall“ stößt er auf den Namen: Eines seiner „Lieblingsgedichte“ von Klaus Groth – Die Welt ist lauter Stille – hat eben dieser Jenner vertont. Das interessiert ihn; er möchte herausfinden: „Wer ist das, der dem Groth die Töne zu seinen Gedichten schreibt?“ Auf der Suche nach dessen Geburtshaus trifft er auf die geheimnisvolle „Inselgärtnerin“ (und Klavierlehrerin) Mietje, ein „Groupie“, das zu seiner Muse, seinem Medium wird. Die ersten Informationen über Jenner erhält er von ihr. Aber der namen- und gesichtslose Ich-Erzähler, der einige Züge mit dem Autor teilt, aber nicht mit ihm identisch ist, wird ebenso wenig wie sein Cicerone wirklich gebraucht – große Teile des Romans schreibt der Autor als auktorialer Erzähler ganz ohne deren Vermittlung.

Der Komponist Gustav Jenner (1865-1920), Gemälde von Maria Fellinger (1849-1925)

Er bleibt im Wesentlichen der Chronologie der „Lebensreise“ seines Protagonisten treu und beginnt mit der Schulzeit Jenners an der Kieler Gelehrtenschule und der ausführlich geschilderten ersten Begegnung mit Klaus Groth, der seine weitere Entwicklung wesentlich bestimmt hat. Sie endet damit, dass Groth beschließt: „Ja, er würde sich um Gustav Jenner kümmern“. Dazwischen geschaltet wird ein Rückblick auf die Kinderjahre Jenners auf Sylt, die mit einem abrupten – und vom Vater allein bestimmten – Wohnortwechsel nach Kettwig im Ruhrgebiet enden. Welche Bedeutung die Insel – und der unfreiwillige Abschied von ihr – für ihn hatte, wird erst nach und nach deutlich. Die Lebensumstände der Familie in Kettwig (und nach einem weiteren Umzug nur drei Jahre später in Mülheim) bleiben eine Leerstelle. Die Familie als ganze, inzwischen in Gleschendorf bei Segeberg wohnend, tritt fürs erste in den Hintergrund, der Fokus richtet sich auf den Sohn Gustav und seine Zeit in Kiel, in der sich seine musikalische Neigung und seine Fähigkeiten – als Chorsänger, Klavierlehrer und Komponist – entwickeln. Dann aber holt den Vater die Vergangenheit ein; er wird wegen sexueller Übergriffe in seiner Arztpraxis und Mordverdachts angeklagt und begeht noch im Gerichtssaal Selbstmord. Details bleiben im Dunkeln. Der Erzähler zitiert aus Jenners Tagebuch, auch aus Briefen der Mutter, lässt aber daneben seiner Phantasie Spielraum, wenn er sich in die (Tag-)Träume des Kindes versetzt oder imaginiert, wie der Junge auf den Prozess gegen den Vater reagiert. Im Übrigen folgt er weiter der Lebensreise seines Protagonisten, der jetzt von Groth an Johannes Brahms ‚vermittelt‘ wird. Und der zeigt tatsächlich Interesse („Talent ist vorhanden, aber es ist alles so unfertig […]“).

In Leipzig kommt es 1888 zur ersten Begegnung der beiden und Jenner zieht nach Wien, um sich unter dem strengen Patronat von Brahms kompositorisch weiterzubilden. Der kritisiert ihn unnachsichtig, erkennt aber auch seine hohe Begabung („In Ihnen steckt so unerhört viel“) und lässt ihn sogar – sozusagen als Gesellenstück – zu einem von ihm selbst bereits vertonten Gedicht von Groth – Mein wundes Herz – erneut ‚die Töne schreiben‘. Aber auch bei diesem ‚Auftrag‘ hütet sich Jenner, „weiter zu gehen als Brahms“. Das ist auch die musikgeschichtliche Position, auf der ihn der Autor verortet: „Jenner blieb auf der Seite der Alten“. Mit Wagner oder gar mit Mahler und Bruckner konnte und wollte er sich nicht messen. Interessant ist seine – zumindest in der Darstellung von Egge – indifferente Position zu Hans Rott, dem 26-jährig in einer österreichischen Landesirrenanstalt verstorbenen Komponisten, der von Bruckner gefördert, von Brahms aber nicht anerkannt und – wie Bruckner ihm vorwarf – in den Tod getrieben wurde. Ob Jenner ihn – entgegen Brahms – für ein Genie hielt, das bleibt bei Egge offen. Immerhin aber lässt er Jenner mit seiner Verlobten sein Grab auf dem Wiener Zentralfriedhof suchen (und nicht finden).

Der Bericht des auktorialen Erzählers wird danach für ein Kapitel unterbrochen und setzt erst mit der Marburger Zeit Jenners ab 1895 (als Akademischer Musikdirektor) wieder ein. Dort arbeitet er erfolgreich als Musikpädagoge, wird Professor, gibt aber die große „Komponisten-Karriere“ auf. Er heiratet seine Verlobte, sie bekommen zwei Söhne (die beide im Ersten Weltkrieg fallen) und besuchen gemeinsam auch noch einmal die Insel Sylt, „seine Heimat“. Seine Gefühle dabei kann seine Frau jedoch in keiner Weise teilen („er ließ sie Ebbe und Flut erleben. Sie verstand es nicht“). Über die letzten Lebensjahre in Marburg bis zu Jenners Tod 1920 („ganz sang- und klanglos“) geht der Roman knapp hinweg.

Der Wechsel der Erzählhaltung – hier der allwissende Erzähler, der auch in das Innenleben seiner Figuren hineinschauen kann, dort der Ich-Erzähler mit eingeschränkter Perspektive, der aber seine Phantasie umso freier schweifen und die Grenzen von Zeit, Raum und Wirklichkeit überspringen lassen kann – hat unbedingt seinen Reiz. Das gilt besonders für die Schlusspassage, in der die Berichts- und die Erlebnisperspektive fast untrennbar ineinander übergehen. Seine Mietje „ist doch nur eine Figur aus einem Lied“. In Wien trifft er sie wieder und träumt sich mit ihr in die Welt Jenners und seiner Lieder zurück. Ja, die beiden verwandeln sich geradezu in Gustav Jenner und seine Julie, suchen die Wohnadressen von Brahms und Jenner und sein Wiener Kaffeehaus auf. Imaginiertes vermischt sich mit möglicherweise oder tatsächlich Geschehendem; auf einer Gondelfahrt mit dem Riesenrad im Prater tauschen sie gleichsam ganz die Identität mit den Objekten ihrer Spurensuche. In Marburg kommt es zu einer traumhaften Begegnung des Ich-Erzählers mit Jenner, der ihn aber nicht (er-)kennt („Vergessener kann man nicht sein“). Vollends phantastisch der visionäre Schluss auf Sylt: Jenners Geburtshaus verwandelt sich in eine offene und von vielen Menschen frequentierte Gedenkstätte; er selbst tritt auf und aus allen Fenstern des Hauses spielen Instrumente „seine ureigene Symphonie“, nicht streng komponiert, sondern mit „Tiraden, freie[n] Phantasien und Arabesken“. Jenner erlebt hier sogar „die Heimkehr eines verlorenen Vaters“ – eine Wiedergutmachung des diesem widerfahrenen Unrechts?

Das und manches andere bleibt in der Schwebe, und das macht einen weiteren Reiz des Romans aus. Was hat es mit dem geheimnisvollen Grabhügel und dem einst darauf stehenden Turm in der Nähe des Geburtshauses von Jenner auf sich, der leitmotivisch immer wieder auftaucht und als Chiffre für das Heimweh des Protagonisten steht („Keitum, ich muss dich lassen“ – auch dieses Titelmotto begegnet mehrfach)? Wo ist das „drüben“ zu verorten, in das sich Mietje immer wieder zurückzieht und dessen Geheimnis der Ich-Erzähler erst erfahren darf, als er reif dafür ist? Was ist dran an den schweren Anschuldigungen gegen den Vater, die den Sohn in tiefe Zweifel stürzen, von denen die Apotheose am Schluss ihn aber freizusprechen scheint („Der Vater kann gehen, aufrecht, mit erhobenem Haupt“)?

Die Konstruktion des Romans ist dicht gewebt, Leitmotive – neben dem Grabhügel und dem Eingangsmotto auch eine Reihe von Gedicht- bzw. Liedtiteln und -zeilen –, Quer- und Rückverweise durchziehen ihn. In der Sicht des Autor ist der Komponist Jenner ein hochbegabter, ganz in der und für die Musik lebender Einzelgänger, ein wenig „aus der Zeit und aus der Welt gefallen“, der seine Heimat zwar verlassen hat, im Grunde aber nie von ihr losgekommen ist.

Der Autor, sein Erzähler und sein Medium haben alle das gleiche Ziel: „Ich will, dass er [d.h. Jenner] bekannt wird […] wie […] Brahms oder Tschaikovsky [sic] oder Schumann“ (Mietje). Und das Ich des Romans nimmt sich vor, dazu „all jene zu befragen, die diesen Gustav Jenner gekannt haben. Und ihn selbst natürlich auch“. Haben sie dieses Ziel erreicht? Im Roman bleibt das ambivalent. In der fiktiven Marburger Begegnung ist Jenner weiterhin der gänzlich Vergessene, in der Vision des Schlusskonzerts dagegen konstatiert der neutrale Erzähler – nicht das Ich des Romans! –: „Er ist wieder da. Er hat nicht umsonst gelebt“. Ob das Ziel, ihn der Vergessenheit zu entreißen, durch den Roman erreicht wird, kann erst dessen (Verkaufs-)Erfolg zeigen.

Rolf-Peter Carl

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