„Wir verbringen unser Jahr mit der Erwartung des Sommers; kommt er nicht, so hoffen wir auf den Herbst; versagt auch der, so sind wir unglücklich. Wenn aber ein sonniger September glückt, so tausche ich nicht mit der Adria: so hold spielt dann das Licht, so blau wellt dann die Ostsee.“ Wer in Schleswig-Holstein lebt, findet sich in diesen Zeilen wieder. Und kaum jemand hat dies Land so schön beschrieben wie Wilhelm Lehmann.
Geboren 4. Mai 1882 in Puerto Cabello, einer Hafenstadt im Norden Venezuelas, als Sohn eines Lebemannes aus Lübeck und einer gesitteten Hamburgerin, war die Kindheit überschattet von ständigem Streit der Eltern. Meistens ging es ums Geld. Noch als die Kinder klein sind, zieht Lehmanns Mutter mit ihnen nach Wandsbek, der Vater verschwindet wieder nach Südamerika und damit aus dem Leben der Familie. Diese Erfahrung wird zu einem harten Regiment der Agatha Lehmann über ihre Kinder führen, Quelle weiterer Auseinandersetzungen, diesmal mit den Söhnen, bis zu ihrem Tod in den 1920er Jahren.
Mangelndes Selbstbewusstsein kompensiert der junge Lehmann durch extensives Allein-Sein und Huldigung der Einsamkeit. Ein Charakterzug, den er später in seiner Familie beibehalten sollte, und der das Zusammenleben seiner Frauen und Kinder mit ihm nicht einfach machte. Er entflieht dem Mutterhaus durch Studien in Tübingen, Straßburg und Berlin, wo er Zugang zur literarischen Boheme findet. Der Studienabschluss gelingt ihm schließlich im provinziellen Kiel. Mehr als die Philologie jedoch interessierte ihn die Botanik. Diese Dualität ist insofern interessant, als er zeitlebens mit der Philologie als Lehrer sein Brot verdienen sollte, während ihm die Botanik zum zentralen Impuls für seine Literatur wurde. Während des Studiums wurde er zum Verehrer der Musik Hugo Wolfs, dem er sich über Eduard Mörike näherte. Die Vorliebe für die Musik Wolfs sollte ihn sein ganzes Leben begleiten. Dazu entwickelte er sich zu dem, was man landläufig als „Bücherwurm“ bezeichnet. Auch diesen Charakter behält er sein Leben lang bei. Zeitweise ging es seiner Familie schon deshalb wirtschaftlich schlecht, weil Lehmann große Summen in die Anschaffung von Büchern investierte.
Nach dem Studium arbeitet Wilhelm Lehmann zunächst an Reformschulen in Thüringen und in Holzminden. Auf Vermittlung seines als Pastor in Borby tätigen Bruders wird er letztlich Lehrer in Eckernförde und dort bis zur Pensionierung bleiben, wiewohl er keinen Hehl daraus macht, dass der Beruf ihm ein Graus ist. „Ich fand stets nur wenige Leser und war gezwungen, neben der dichterischen Arbeit meine Beamtentätigkeit auszuüben“, stellt er später resignierend fest. Bei den Schülern*innen scheint er durchaus beliebt gewesen zu sein.
Fast alptraumartig werden für ihn die Erfahrungen als Soldat in der Schlussphase des Ersten Weltkriegs. Er entzieht sich durch Desertation, stellt sich. Lehmann drohen harte Strafen. Das Ende des Krieges und der Zusammenbruch des Kaiserreiches werden gleichsam zur doppelten Befreiung für ihn.
In gewissem Sinne war Lehmann lebensuntüchtig und ein Egozentriker. Seine erste Ehe scheiterte recht unrühmlich. Die zweite Ehe mit einer ehemaligen Schülerin aus Neumünster währte bis an sein Lebensende. Dies wohl auch, weil sich seine Frau Frieda ganz der Unterstützung seines literarischen Schaffens verschrieben hatte. Sie regelt die Dinge des praktischen Lebens, um ihrem Mann Rückzugsmöglichkeiten zum Schreiben zu ermöglichen.
Fahrt über den Plöner See
Es schieben sich wie Traumkulissen
Bauminseln stets erneut vorbei,
Als ob ein blaues Fest uns rufe,
Die Landschaft eine Bühne sei.Sich wandelnd mit des Bootes Gleiten
Erfrischt den Blick Laub, Schilf und See:
Hier könnte Händels Oper Spielen,
Vielleicht Acis und Galathee.Die Finger schleifen durch die Wasser,
Ein Gurgeln quillt um Bordes Wand,
Die Ufer ziehn wie Melodien,
Und meine sucht nach deiner Hand.Wenn alle nun das Schifflein räumen,
Wir endigen noch nicht das Spiel.
Fährmann, die runde Fahrt noch einmal!
Sie selbst, ihr Ende nicht, das Ziel.Es schieben sich wie Traumkulissen
Bauminseln stets erneut vorbei,
Als ob ein blaues Fest uns rufe,
Die Landschaft ein Bühne sei.Sich wandelnd mit des Bootes Gleiten
Erfrischt den Blick Laub, Schilf und See:
Wir dürfen Händels Oper hören,
Man gibt Acis und Galathee.Wir sehen, was wir hören, fühlen,
Die Ufer sind die Melodien;
Bei ihrem Nahen, ihrem Schwinden,
Wie gern mag uns das Schifflein ziehn!Dort schwimmt bebuscht die Prinzeninsel,
Hier steigt die Kirche von Bosau –
Wir fahren durch den Schreck der Zeiten,
Beisammen noch, geliebte Frau.Heisst solcher Übermut vermessen?
Rächt sich am Traum der harte Tag?
Muss seine Eifersucht uns treffen,
Wie den Acis des Riesen Schlag?Die Götter sind nicht liebeleer –
Wilhelm Lehmann, 1942
Was ihr den beiden tatet, tut!
Die Nymphe flüchtete ins Meer,
Acis zerrann zu Bachesflut.
Die ersten Gedichte misslingen, Lehmann verlegt sich zunächst durchaus erfolgreich auf das Schreiben von Romanen. Die offizielle Anerkennung erhält er 1923: Ihm wird ihm auf Anregung Alfred Döblins – der Lehmanns Werk immer treu und anerkennend begleitet hatte – der Kleist-Preis verliehen, übrigens gemeinsam mit Robert Musil. Ein Höhepunkt seiner literarischen Biographie, aber auch eine Wende. „Seither druckt mich niemand mehr“ schreibt er 1932. Immer wieder in eine Depression versinkend, schreibt er in den kommenden Jahren weitere Romane, Essays, Novellen, bevor er sich ab 1927 hauptsächlich auf das Verfassen von Gedichten verlegt und dort seine wahre Bestimmung findet. Die Texte sind geprägt von Natur und Magie, Mystik und Märchen. Im Dichter Oskar Loerke, dem Cheflektor des Fischer Verlages findet er einen Gleichgesinnten. Hermann Hesse sagte über die beiden in späteren Jahren: „Der in Eckernförde lebende deutsche Lyriker Wilhelm Lehmann gehört nach meinem Urteil zu den nicht häufigen echt dichterischen und echt lyrischen Begabungen in der heutigen deutschen Literatur. Seit dem Tode Oskar Loerkes rechne ich ihn zu den wenigen, die ich ganz ernst nehme. Er hat, was so selten ist, das Gleichgewicht von sprachlicher Potenz und Kraft des Erlebens. Unter den Dichtern, zumal in der deutschen Literatur und auch in der deutsch-schweizerischen, überwiegen die formalen Begabungen, die über den lyrischen Ausdruck zwar verfügen, aber wenig Substanz und neues Erleben der Wirklichkeit haben. Andere, seltenere, haben das originale, wertvolle Erleben in vollem Maße, es fehlt ihnen aber die Schönheit und Natürlichkeit des Ausdrucks. Wilhelm Lehmann hat beides und wird nach meiner Meinung manchen heute Berühmteren überdauern.“ Nun, es kam anders. Manch‘ weniger Begabte ist heute berühmter als Lehmann.
Außerhalb von Fachkreisen ähnlich vergessen, aber mit großer Bedeutung für ihn, wurde der Lektor und Schriftsteller Moritz Heimann bei S. Fischer. Er war der Mentor des um einige Jahre Jüngeren, oft ganz praktisch, da er ihm über finanzielle Engpässe, die die Familien Lehmanns mehr als ein halbes Leben lang begleitete, hinweghalf. Da dieser beim Verleger Samuel Fischer mit seinen Texten, durchaus wohlwollend aufgenommen, keinen Erfolg hat, nimmt sich Max Tau seiner verlegerisch an.
Der Eintritt des Gymnasiallehrers in die NSDAP war wohl allein der Existenzangst geschuldet. Wenn er sich auch in der Öffentlichkeit nicht kritisch äußern mag, den Kontakt zum jüdischen Freund Werner Kraft in der Emigration gar auslaufen lässt (den er jedoch 1945 wieder aufnimmt), so spricht doch sein Tagebuch und das Zeugnis von Familienmitgliedern, insbesondere seiner Schwiegertochter, eine klare Sprache. Lehmann verachtete die Brutalität des Naziregimes. Ihm, der immer auch mit jüdischen Intellektuellen Umgang hatte, war der Antisemitismus der Nazi-Schergen zuwider, ihn ängstigte das Gewalttätige der Ideologie.
In den ersten Jahren der NS-Zeit erscheinen hier und da kritische Artikel gegen den Autor, später findet er wieder Verleger und Anerkennung im Feuilleton. Er korrespondiert in der Zeit intensiv mit Elisabeth Langgässer, auch Briefe von und an Hermann Hesse sind erhalten.
Die Nachkriegsjahre bringen ihm endlich Befreiung von der lästigen Pflicht des Unterrichtens. Die Beziehungen zu seinen eigenen Kindern, oft von Spannungen geprägt, werden besser.
In der Biografie fällt auf, dass Lehmann zwar viel reiste, die Ziele sich aber doch beschränkten. Er war viel im Tessin, sonst in Italien, in Großbritannien und in Irland. Die Vielfalt der Ziele blieb überschaubar. Ansonsten entsprach die schleswig-holsteinische Landschaft, wiewohl sich auch kritische Zungenschläge in seinen Tagebüchern finden, seinem Wesen. Mit seinem Leben verbinden sich Orte wie Wandsbek, Heide, Neumünster, Dörpshof, Eckernförde und Klein-Wittense.
Mitte der 1950er Jahre war Lehmann endlich in der deutschen Literaturszene angekommen und anerkannt. Doch da sich die Ästhetik und die Ziele der Literatur just da wandelten, war der Höhepunkt seines Schaffens gleichzeitig das Tor zum Vergessen. Es begann eine Zeit, in der Schriftsteller seinesgleichen nicht mehr en vogue waren. Die Naturlyrik, das Magische, war nicht mehr gefragt. Kindlers Literaturlexikon von 1974 erwähnt nur einige wenige Werke Lehmanns, Weidermanns Nachkriegsliteraturgeschichte, zu Beginn des neuen Jahrtausends verfasst, nimmt Lehmann gar nicht mehr wahr. Für die literarische Entwicklung der (neuen) Bundesrepublik spielte er keine nachhaltige Rolle. Sie wurde beherrscht von der Gruppe 47 mit einem stärker am Realismus, an der Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart orientierten Texten. Kritik war gefragt, nicht mehr die Naturdichtung. Lehmann stirbt im hoch politisierten Jahr 1968 in Eckernförde.
Biographie und Rezeption seines Werkes sind exemplarische Kulturgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Stephan Wackwitz, Rezensent der FAZ, schrieb am 19. Juli 2017 in ebendieser Zeitung resümierend zur Neuauflage des Bukolischen Tagebuchs auch den 1920er Jahren, dies sei „ein Bericht aus schlimm bewegten Jahren, der eindringlich beweist, dass ‚das Leise stärker als das Laute, das Zarte als das Grobe, das Weiche als das Harte ist‘“. Und ja, ohne Lehmanns Bedeutung provinzialisieren zu wollen, sein Werk ist auch ein Beitrag zur Geschichte der Naturlyrik. „Ein heißer Sommer läßt die Bäume früh rosten, ein feuchter hält sie bis in den Herbst grün. Der nächste Weg kann nach Immensee führen, der nächste Dampfer zur Fahrt über die Siebenseen locken, und eine Ostseestadt steigt verzaubert aus dem Wassernebel. Mit seiner heidnischen Schönheit wurde dieses Land die Mutter meiner Dichtung.“ Die Verbundenheit mit der Landschaft Schleswig-Holsteins prägte Lehmanns Biografie sogar in der Selbstbeschreibung und so kann man wohl mit Fug und Recht behaupten, er sei ein Dichter im Land geblieben. Nicht mehr – aber auch nicht weniger.
Martin Lätzel