Seine Bildreportage „Zeitenwende“ (2021) dokumentiert die Lebens- und Arbeitswelt der letzten Fischer auf dem Schleswiger Holm. Aktuell begleitet er die wenigen verbleibenden Wanderschäfereien in Schleswig-Holstein mit seiner Kamera. Mit seiner unverwechselbaren Bildsprache setzt der Fotograf Holger Rüdel diesen bedrohten Berufen ein ästhetisches Denkmal. Dabei lenkt er die Aufmerksamkeit auch auf das fragile Verhältnis des Menschen zur Natur. Ein Gespräch über die Schule des Sehens und den entscheidenden Augenblick, über Vertrauen, Wirklichkeit und Wahrheit.
Lieber Herr Rüdel, was bedeutet die Fotografie für Sie?
Die Fotografie war für mich immer eine Schule des Sehens. Ich bin mit der Fotografie groß geworden. Mit 16 hatte ich eine eigene Dunkelkammer und habe für eine Schüler- und Studentenzeitung fotografiert. Später habe ich dann in Hamburg unter anderem Bildjournalismus studiert. In meinem Berufsleben als langjähriger Leiter des Kulturamtes der Stadt Schleswig hatte ich das Glück, als Direktor des Stadtmuseums auch als Kurator für Fotoausstellungen tätig zu sein und habe dabei viele großartige Fotografen kennen lernen dürfen. Nun bin ich seit sechs Jahren im Ruhestand und zu dem zurückgekehrt, was ich ursprünglich einmal machen wollte: Ich fotografiere selbst professionell als Freelancer, mache Fotoreportagen und schreibe im Blog auf meiner Internetseite über Fotografie.
Im Laufe dieser Zeit hat die Fotografie selbst einen grundlegenden Wandel durchgemacht – insbesondere durch die Digitalisierung …
Als ich mit dem Fotografieren begann, war die Fotografie selbstverständlich noch analog. Die Filmentwicklung war teuer, ebenso die Filme selbst – und sie erlaubten maximal 36 Aufnahmen. Da überlegst Du Dir schon genau, wann du auf den Auslöser drückst. Insbesondere natürlich bei Berichterstattungen oder Bildreportagen. In meiner Studienzeit war ich als Akteur und Beobachter involviert in die damaligen Studentenproteste. Das Geschehen einer Demonstration sinnvoll abzubilden, erforderte höchste Konzentration sowie räumliches und inhaltliches Verständnis für die Situation. Wenn Du eine zweite Kamera dabeihast, hast Du immerhin 72 Aufnahmen, doch dann ist Schluss: Der Wechsel des Films kostet wertvolle Sekunden, in denen man den entscheidenden Moment verpassen kann. Lange Rede, kurzer Sinn: Du achtest sehr genau darauf, wann und wie Du ein Foto machst. Mit der Revolution, die die Digitalisierung für die Fotografie bedeutete, wurde das weniger wichtig. Ein Druck auf den Auslöser bedeutet heute nichts mehr. In einem Blogbeitrag für meine Website habe ich mich gerade mit einer passenden Innovation beschäftigt: Für sein Spitzenmodell hat Nikon gerade ein Firmware-Update herausgebracht, mit dem man sage und schreibe 60 Bilder pro Sekunde auslösen kann. Solche Fortschritte sind zweifelsohne gigantisch und eröffnen ganz neue Möglichkeiten. Für den Menschen hinter der Kamera – ob Laie oder Profi – bergen sie jedoch auch die Versuchung, einfach draufzuhalten, anstatt den „entscheidenden Augenblick” abzuwarten, wie es Henri Cartier-Bresson, der Altmeister der Bildreportage, nannte.

Mehr von Holger Rüdel finden Sie auf seiner Internetseite:
www.holger-ruedel.de
Foto: © Henrik Matzen
Das Gespräch führte Kristof Warda