Der Frühling: Eine Kulturgeschichte

Wildkräuter im Jahreslauf Teil 1: Frühling. John William Waterhouse: Flora and the Zephyrs, 1898
Wildpflanzen im Jahreslauf teil 1: Frühlingserwachen. Sandro Botticelli: La Primavera (1481-82), Le  Gallerie degli Uffizi, Florenz. https://g.co/arts/ep9qj3msujubwzrx7
Sandro Botticelli: La Primavera (1481-82), Gallerie degli Uffizi, Florenz

Unser Autor Welf-Gerrit Otto begibt sich auf einen ganz besonderen Frühlingsspaziergang: Mit Blick auf das Wildgemüse vor der heimischen Haustür entdeckt er eine sagenumwobene und geheimnisvolle Welt, die nur auf den ersten Blick alltäglich erscheint: Eine Welt voller Geschichten von Naturgeistern, magischen Kräften und heilenden Wirkungen, die Mythos, Märchen und Volksglaube dem ersten sprießenden Grün zugeschrieben haben. 


Ewiger Kreislauf von Werden, Wachsen, Vergehen und Wiederentstehen. Seit Menschengedenken beeinflussen die Jahreszeiten Natur und Kultur gleichermaßen. Ihr Reigen entsteht durch den Einfallswinkel der Sonne. Unser Planet ist um 23,5 Grad geneigt, und da diese Neigung stets in dieselbe Richtung weist, fallen im Sommer die Sonnenstrahlen steiler und im Winter flacher auf die Erdoberfläche. Das beschert uns in den gemäßigten Breiten Frühling, Sommer, Herbst und Winter – und wieder Frühling. In den folgenden Ausgaben dieser Zeitschrift wird es an dieser Stelle um Wildpflanzen im Jahreskreis und ihre Beschreibung durch Mythos, Märchen und Volksglaube gehen. Daneben werden auch einige pharmazeutische und kulinarische Verwendungsweisen ausgesuchter Wildgemüse beispielhaft vorgestellt. Die Geschichten sollen Lust und neugierig machen auf das, was uns in der jeweiligen Saison draußen in der Natur begegnet und wie wir es mit allen Sinnen begreifen, hören, sehen, riechen und schmecken können.

Nun also ist wieder einmal Frühling. Lang dauerte der Winter. Der trieb Menschen und Tiere schon im späten Herbst in ihre Behausungen oder in wärmere Gefilde und hat alles still und reglos gemacht. Laublos, lautlos, leblos. Beinahe lichtlos dann die Zeit um Wintersonnenwende, Jul, Weihnacht, heilige Nacht. Vermeintlicher Stillstand des Rades ewiger Wiederkehr. Doch das beständige Wandern setzt nicht aus, der Kreis ist ungebrochen. In den Rauhnächten zwischen den Jahren geistert das wilde Heer unter der Führung Odins, respektive des Weihnachtsmanns über das Firmament. Das Chaos des Ursprungs bricht in dieser Zeit der Schatten durch die Fugen astronomischer Ordnung. Sol invictus – die unbesiegte Sonne wird neu geboren.

Betrachtet Kreis als Hin und Her.
Dazwischen nur ein Ruhepunkt, unentschieden,
Der aber sichert Schoepfung den Frieden.
Denn Ruhe oeffnet Raum dem Geist,
Darin leben stark, frei lernend reist.
Moegen Jahre in die Lande fliessen,
Waehrend wir offen eben empfindsam genieszen.


Leben erinnert ebenbuertig stark und offen.
Gerade schriftlich Erwogenes laeszt hoffen.
Starke Jahre sind mitgeteilt schriftlich gesamt.
Hoch geschichtet ist Erzaehlung im Amt.
In unseren Genen gerade eben mitgeschrieben,
Wie wir uns alle geschichtet lieben.
Winters geborgen, rettet Schrift unseren Morgen.


Vermeintlicher Stillstand des Rades ewiger Wiederkehr, Kurt Le Bendisch 2018

Werden die Tage nach Wintersonnenwende dann wieder länger, nimmt paradoxerweise auch der Winter in seiner Strenge zu. Der Februar ist der kälteste Monat des Jahres. Sein alter Name Hornung rührt daher, dass zu dieser Zeit die Hirsche ihr Geweih abwerfen. Nun im Frühling bricht sich das Leben erneut Bahn. Die Natur ist in Aufbruchsstimmung. Das stetig an Dauer zunehmende Licht ist ein starker Impuls für Pflanzen und Tiere. Die Wiederkehr des Lichts ist elementarer Ausdruck dieser Jahreszeit. „Lenz“ gilt als ältestes Wort der deutschen Sprache für Frühling. Es bezieht sich in seiner Bedeutung unmittelbar auf das Längerwerden der Tage. Klimatisch und wetterbedingt ist der zeitige Frühling gleichsam ein Ginnungagap der Gegensätze, ein schöpferischer Zwiespalt zwischen dem brünstigen Feuer der wiedererwachten Sonne und den kühlen Schauern der Winterschmelze. Sprichwörtliches Aprilwetter eben. Astronomisch wird der Jahreskreis in die beiden Sonnenwenden zu Sommer- und Winterbeginn sowie die beiden Tagundnachtgleichen zu Frühlingsund Herbstbeginn unterteilt. Der astronomische Frühlingsbeginn fällt auf das Primär-Äquinoktium um den zwanzigsten März und bot bereits den ackerbauenden Kulturen des Neolithikums eine wichtige Orientierung für die Aussaat. Nicht zuletzt aus (land-)wirtschaftlichen Erwägungen, errichteten die Menschen des Altertums astromische Observatorien als Kultstätten (etwa Stonehenge oder Goseck) und entwarfen komplizierte Instrumente zur Zeitbestimmung (etwa die Himmelsscheibe von Nebra oder den Mechanismus von Antikythera).

Der kalendarische Frühlingsanfang indes richtet sich nicht nach astronomischen Gesetzmäßigkeiten, sondern ganz alltagstauglich nach dem jeweiligen Klima und dem zu erwartenden Wetter in einer bestimmten Region. Seine kulturrelativistische Festlegung gründet sozusagen in tradierter geodeterministischer Empirie. Daher hat man den Frühlingsanfang zu verschiedenen Zeiten und an unterschiedlichen Orten divers datiert. Denn auch das Klima an ein und demselben Ort wandelt sich mit der Zeit. Natürlich und – erschreckenderweise – jüngst auch anthropogen.

Die Nacht vom ersten auf den zweiten Februar galt den keltischen Stämmen Irlands als Lichtfest. Die Katholiken feiern noch heute Mariä Lichtmess am gleichen Termin. Das Kirchenjahr kennt noch weitere Frühlingsfeste, die teils auf heidnische Riten zurückgehen. So wurde in manchen Gegenden Mitteleuropas früher Petri Stuhlfeier am zweiundzwanzigsten Februar als Frühlingsanfang begangen. Am Vorabend findet in Nordfriesland alljährlich das weit über die Region hinaus bekannte Biikebrennen statt, dessen Wurzeln möglicherweise in vorchristlichen Kulten gründen. Auch wurde mancherorts wahlweise der vierundzwanzigste Februar (Heiliger Matthias), der siebzehnte März (Heilige Gertrude) oder der fünfundzwanzigste März (Mariä Verkündigung) als Beginn des Frühlings gefeiert. Am Südhang gewesen sein als auf weiter Flur. Doch insbesondere ein Fest des christlichen Jahreslaufs stellt alle übrigen Frühlingsfeste in den Schatten, und dies überregional. Ostern gilt als Hauptfest der Christenheit, obwohl Weihnachten zugegebenermaßen in den vergangenen Jahrhunderten im profanen Kontext an Bedeutung gewonnen hat. Es erinnert an den Kern christlicher Weltanschauung, der Kreuzigung und Wiederauferstehung von Jesus Christus, dem Sohn Gottes.

Laut Überlieferung im Neuen Testament fiel dieses Ereignis in die Pessach-Woche, in der die Juden ihres Auszugs aus Ägypten und der Befreiung aus der Sklaverei gedenken. Ostern, berechnet nach dem Lunisolarkalender, richtet sich an diesem Termin aus, der stets auf den ersten Sonntag nach dem Frühlingsvollmond fällt – frühestens am zweiundzwanzigsten März und spätestens am fünfundzwanzigsten April.

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Welf-Gerrit Otto

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Bild: „Flora and the Zephyrs“, John William Waterhouse (1898)