Mehr als 1,6 Millionen Tonnen Kriegsaltlasten lagern als tödliches Erbe der Weltkriege vor unseren Küsten. Jetzt will die Politik handeln. Mit dem aktuellen Koalitionsvertrag verpflichtet sich die Ampel-Regierung zu einem Sofortprogramm zu Munition im Meer.
Mehr als 1,6 Millionen Tonnen Kriegsaltlasten lagern als tödliches Erbe der Weltkriege vor unseren Küsten. Um Deutschland und Mitteleuropa zu entmilitarisieren, sahen die alliierten Streitkräfte keine andere Lösung, als Hunderttausende Spreng- und Brandbomben, Minen und Torpedos, aber auch chemische Kampfstoffe wie Senfgas oder Tabun an möglichst tiefen Stellen der Nord- und Ostsee zu versenken. Ein gefährliches Spiel auf Zeit, denn inzwischen korrodieren und zerbrechen die eisernen Hülsen und Gifte wie Trinitrotuluol (TNT) und Schwermetalle diffundieren ins Meer, mit teilweise dramatischen Folgen für Mensch und Umwelt. Jetzt will die Politik handeln. Mit dem aktuellen Koalitionsvertrag verpflichtet sich die Ampel-Regierung zu einem Sofortprogramm zu Munition im Meer.
Langer Atem zahlt sich aus
Lange, viel zu lange stritt die Politik um die Verantwortlichkeit bei der Lösung des Problems der Kriegsaltlasten in Nord- und Ostsee. Da die Kampfmittelräumung als Gefahrenabwehr in der Zuständigkeit der Länder liegt, lehnte sich der Bund zurück und scheute eigene Zusagen zur Unterstützung der Küstenländer, wissend um die Dimension und Kosten einer strategischen Munitionsräumung in Nord- und Ostsee. In der Konsequenz gab es selten strategische Suchen nach Altmunition und noch weniger koordinierte Bergungsversuche ebendieser. Agiert wurde auf Zuruf, wenn Bombenbergungen den Ausbau erneuerbarer Energien verzögerten oder ein Torpedo eine Hafeneinfahrt gefährdete. Dann mussten die Kampfmittelräumdienste der Länder ran. Nichtsdestotrotz ließ eine kleine Gruppe aus Wissenschaft, Verbänden und Politik nicht locker. 2007 führte der NABU Schleswig-Holstein ein erstes Fachgespräch über neue Methoden der Munitionsbeseitigung durch. Anlass war der Fund von 130 Großsprengkörpern in der Kolberger Heide bei Kiel. 2010 dann ein erster Erfolg. Der Bund-Länder-Ausschuss Nord- und Ostsee setzte auf Initiative Schleswig-Holsteins den Expertenkreis Munition im Meer ein und dieser begann das Wissen um Versenkungsgebiete und drohende Umweltgefahren zusammenzutragen. Es folgten nationale und internationale Forschungsprojekte und 2019 war Munition im Meer auf der Tagesordnung der deutschen Umweltministerkonferenz. Zwei Jahre später beschloss eben dieses Gremium den dringenden Bedarf der Bergung und umweltgerechten Entsorgung von Altmunition und löste zwei fraktionsübergreifende Anträge im Deutschen Bundestag aus, einen der damaligen Regierungs-Koalition aus CDU/CSU und SPD, und einen der Opposition von FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Munition im Meer stand in allen Wahlprogrammen wurde sogar Teil des Bundestagswahlkampfes, eng begleitet durch gleich drei Fachgespräche des NABU. Und so wurde dieser lange Atem einer kleinen, aber in den letzten Jahren größer werdenden Gruppe belohnt. Und als sich die Ampel zur Regierungsbildung traf, schaffte es das Sofortprogramm zu Munition im Meer in den Koalitionsvertrag. So weit so gut.
Gefahr für Mensch und Umwelt
Gehandelt werden muss, und zwar jetzt. Denn die Gefahren von konventionellen und chemischen Kampfmitteln im Meer sind vielfältig und unberechenbar. Mehrfach kam es bereits zu (Beinahe-)Unfällen beim Einsatz von Grundschleppnetzen deutscher, dänischer oder niederländischer Fischer, zu Funden von Wasserbomben entlang von Schifffahrtslinien oder auch behördlich angeordneten Minensprengungen. So brachte ein NABU-Minensuchverband 2019 gleich 39 Seeminen im Naturschutzgebiet Fehmarnbelt zur Detonation, mit dramatischen Folgen für die Meeresnatur. Denn die Druckwelle der Explosionen kann noch in mehreren Kilometern Entfernung tödlich sein, mindestens zehn Schweinswale starben, große Riffflächen glichen einer Kraterlandschaft. Das Thema beschäftigte auch den deutschen Bundestag und dessen wissenschaftlicher Dienst beschrieb in seinem Abschlussbericht fatale Abstimmungsversäumnisse deutscher Behörden und Ministerien.
Gefahr besteht aber auch für uns Menschen. Denn durch die fortschreitende Korrosion gelangen immer mehr Schadstoffe ins Meer, längst sind sprengstofftypische Verbindungen auch in kommerziell genutzten Arten von Fischen und Muscheln nachgewiesen. Auch werden immer mal wieder Phosphor aus Brandbomben, Stangenpulver, Schießwolle oder Zünder von der Brandung ausgespuckt oder freigespült und gefährden so Badeurlauber:innen und Strandspaziergänger:innen. Tückisch die Ähnlichkeit des weißen Phosphors mit Bernstein, der sich an der Luft selbständig entzünden und zu lebensgefährlichen Verletzungen führen kann. Teil des Problems ist auch die fehlende Transparenz und öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Manchmal wirkt es fast, als wollen auch Küstenkommunen nur ungern über die lauernde Gefahr im Meer sprechen, um Badegäste nicht zu verunsichern und mögliche Einbußen des Tourismus zu vermeiden. Aber ist das tatsächlich der richtige Weg oder braucht es nicht einen ehrlichen, gemeinsamen Umgang mit dem Problem?
Jetzt entschlossen handeln
Das Momentum ist nach Meinung des NABU da. Denn neben dem bundespolitischen Konsens im Jahr der Bundestagswahl hat sich auch der Forschungs- und Technologiestandort Deutschland in Position gebracht. Durch den Bau maritimer Infrastruktur haben sich deutsche Firmen beim Bau von Windrädern und Pipelines auf dem Meer internationale Reputation in der Munitionsräumung erarbeitet. Was fehlt, ist eine verstärkte Zusammenarbeit der Akteure und der Aufbau einer schwimmenden Plattform zur Munitionsbergung und -vernichtung. Und so passt hier zusammen, was andernorts oft trennt. Industrie, Naturschutz und Politik ziehen an einem Strang. Mit einem entschlossenen Handeln, mit einer nationalen Strategie zur sprengungsfreien und naturverträglichen Bergung von Kriegsaltlasten, mit einem Pilotprojekt Ostsee und mittelfristiger finanzieller Absicherung könnte Deutschland zu einem europäischen Vorreiter werden. Ein Win-Win für Umwelt und Wirtschaft. Denn natürlich ragt das Problem versenkter Altmunition weit über die deutschen Gewässer hinaus, hat eine europäische und auch globale Dimension. Und trotzdem ziehen ganz aktuell wieder dunkle Wolken auf. Denn in Zeiten der Corona-Pandemie und der dramatischen Entwicklungen des Ukraine-Krieges werden viele Pläne des Bundeshaushalts neu auf den Prüfstand gestellt und jeder Euro zweimal umgedreht. Die notwendigen 100 Millionen Euro für das Sofortprogramm zu Munition im Meer im Koalitionsvertrag sind längst nicht sicher. Doch sparen wir jetzt, dann wird die nächste Generation leider noch einen sehr viel höheren Preis zahlen müssen. Dessen sollte sich die verantwortliche Politik von heute bewusst sein.
Kim Cornelius Detloff

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