Sonntag, 26. März 2023

Das macht etwas mit mir … Perspektive aus dem Orchestergraben

KulturzeitschriftDas macht etwas mit mir … Perspektive aus dem Orchestergraben

Der Lüneburger Oboist und Aktivist Tsepo Bollwinkel appelliert an das Opernpublikum, die eigene Perspektive zu hinterfragen und den Narrativen der rassistischen Erzählung nicht mehr zu folgen.

Ich war etwa sechs Jahre alt, als mich meine Mutter zum allerersten Mal mit in die Oper nahm. Ein unvergessliches Ereignis, dieser Rausch in Tönen, Bewegung und Licht. Und ich hatte wahrscheinlich großes Glück: Denn meine erste Oper war Verdis Don Carlos.
Mit meinen sechs Jahren habe ich nicht alles verstanden – aber, dass es um die ganz großen Gefühle ging, um all die Schwierigkeiten in Beziehung zu sein, um das Elend, zwischen innerer Wahrheit und äußerem Druck entscheiden zu müssen, das kannte ich auch schon in diesem jungen Lebensalter, damit konnte ich mich emotional leicht verbinden.
Und all die Düsternis hatte auf der Opernbühne einen tröstlichen Reiz, eine eigene, irgendwie schimmernde Ästhetik – ganz im Gegensatz zu meinem realen Leben.
Auf der Bühne gab es einen Sinn in all dem Verrat, Leid und Blut dieser Oper. Auch ganz im Gegensatz zu meinem realen Leben, das schon zur Genüge Verrat, Leid und Blut kannte, bin ich doch ein Kind der Flucht. Don Carlos machte aus dem Elend etwas Schönes – Zauber der Oper. (Übrigens mag ich noch heute lieber tragische Werke auf der Opernbühne. Die Happy-End-Literatur ist mir immer noch zutiefst suspekt …)
Wie gut, dass es der gruselige, traurige Don Carlos war, meine allererste Oper. Hätte ich zuerst meine zweite Oper gesehen, wäre mein Leben wohl anders verlaufen.
Die zweite Oper war nämlich Die Zauberflöte. Ich erinnere noch, wie eine Person aus dem familiären Umfeld meine Mutter lobte: „Das ist jetzt doch mal ein Stück für Kinder.“ Und so bestaunte ich also diese fantastische Welt der Zauberflöte.
Fantastisch: der Drache, die heldinnenhaften drei Damen, ein Typ, der sich in ein Bild verliebt, eine dämonische Nachtgöttin mit unglaublicher Tonakrobatik, ein weiser Priester, der geradezu unerträglich gut zu sein scheint.
Und dann dieser Vogelmensch und eine junge Prinzessin – die beiden Einzigen, die sich meiner Meinung nach wie vernünftige Menschen benahmen. Denen galt meine Sympathie. Denen gilt meine Sympathie noch heute.
Und: Da spielte ja eine Figur mit, die hatte viel mit mir gemeinsam. Oder vielmehr sollte es so scheinen, denn die Rolle des Monostatos spielte ein weißer Sänger in Blackface und orientalisierendem Kostüm. (Die erniedrigende Bedeutung und den Skandal von Blackfacing und Orientalisierung sollte ich erst später verstehen.) Aber schon bei meiner ersten kindlichen Begegnung mit der Zauberflöte konnte ich keine Freude empfinden, jemanden wie mich auf der Bühne dargestellt zu sehen.
Schließlich ist der Monostatos so ein ganz Böser, ein so Böser, dass er am Schluss der Oper als Einziger nicht Teil des Happy Ends ist, sondern mit der Peitsche bestraft wird.(Ich komme übrigens aus Südafrika, aus Apartheid-Südafrika. Mein Vater wurde noch von der Polizei mit der Nilpferdpeitsche geschlagen. Dieses Detail der Oper war für mich also kein fantastisches Märchen, sondern gelebte, erlittene Realität.)
Aber die Musik! Die Musik der Zauberflöte ist in vielen Nummern so unfassbar gut. Und zu den Perlen dieser Musik gehört auch die einzige Arie jenes Monostatos, wo in virtuosem Tempo Begehren, Erregung und Angst einen Ausdruck finden, der doch liedhaft eingängig ist.
Und – vielleicht weil ich mir diese Figur, die mir doch ziemlich glich, mit der ich mich identifizieren konnte, doch sehr nahe ging, kam ich aus der Aufführung mit dem Refrain aus seiner Arie als Ohrwurm: „… weil ein Schwarzer hässlich ist, weil ein Schwarzer hässlich ist.“ Und mir wurde schlecht …
Das ist nun schon mehr als 50 Jahre her. Ich bin also Theaterprofi geworden, wollte es von klein auf werden, weil ich Oper so liebe, diese Kunst der großen Gefühle, die die Schwierigkeiten und das Glück in Beziehung zu sein besingt, die das Elend, zwischen innerer Wahrheit und äußerem Druck entscheiden zu müssen, wieder und wieder neu verhandelt.
Ich liebe das Zusammenspiel so vieler unterschiedlicher Gewerke und Berufe, die erst gemeinsam jenen einmaligen Moment einer Aufführung erschaffen. (Sie, das Publikum, sind übrigens ein wichtiger Teil jener kollektiven Bemühung, die Musiktheater erst möglich macht. Wir hinter, unter und auf der Bühne brauchen Ihre aktive Mitwirkung. Oper kann mensch nicht nur konsumieren.)
Dass ich an dieser Kunstform Oper als Musiker teilhabe, dass die Oboe mein Instrument ist, das ist mehr biografischen Zufällen zu verdanken. Was ich immer wollte, war Oper mitgestalten. Und so spiele ich Oper professionell seit inzwischen vier Jahrzehnten. Alles in allem auch ganz gern.
In diesen vier Jahrzehnten bin ich natürlich auch sehr, sehr häufig der Zauberflöte begegnet, ich habe sie wohl einige hundert Male gespielt.

Weiterlesen …?

Um den gesamten Artikel lesen zu können, buchen Sie bitte unser monatlich kündbares Online-Abo oder bestellen Sie die Print-Ausgabe.

Schon gewusst? Auch als Print-Abonnent*in der Kulturzeitschrift Schleswig-Holstein erhalten Sie Zugang zu allen Artikeln auf unserer Internetseite. Sie sind Abonnent*in und haben noch keinen Online-Zugang? Dann senden Sie uns eine Mail mit Ihrer Abo-Nummer an info@schleswig-holstein.sh und wir richten es Ihnen ein.

Tsepo Bollwinkel

Weitere Artikel

Perspektivregion

Geschichte ist weder in Stein gemeißelt noch wird sie der Menschheit aus einem brennenden Dornbusch überliefert. Denn jede Generation schreibt ihre eigene Geschichte und legt deren Schwerpunkte und Perspektiven fest. Das Projekt PerspektivRegion möchte das Zusammenleben in der deutsch-dänischen Grenzregion neu denken und lädt dafür im September 2022 zum „Zukunftsparlament“ ein.

Globales Lernen im Museum: Neue Perspektiven auf „Altbekanntes“

Globales Lernen will Menschen ermutigen und befähigen, sich für Gerechtigkeit für alle Menschen auf dieser Welt einzusetzen. Das setzt Verständnis für zunehmend komplexe Themen voraus, da es sonst kaum möglich ist, sich eine eigene Meinung zu bilden. Museen bieten Möglichkeiten, Vielfalt erfahrbar zu machen. Allein aufgrund ihrer abwechslungsreichen Ausstellungsstücke, aber auch indem wir uns ihnen aus unterschiedlichen Perspektiven nähern. Und letztlich zur zentralen Frage gelangen: Was hat das mit mir zu tun?

Zehn Jahre: Das Kammermusikfest Sylt feiert Geburtstag

Auf der Nordseeinsel Sylt steht seit 2012 ein jährlich stattfindendes, sommerliches Kammermusik-Festival auf dem Programm: das Kammermusikfest Sylt. An den verschiedensten Orten auf der ganzen Insel wird seither an fünf Tagen im Juli Kammermusik auf höchstem musikalischem Niveau zum Klingen gebracht.

Der Polnische Pavillon auf der NordArt 2022

Die große Kunstausstellung in Büdelsdorf legt in diesem Jahr ihren Länderfokus auf unser Nachbarland Polen. Jan Wiktor Sienkiewicz, Kurator des Länderpavillons, gibt im Gespräch mit Chefredakteur Kristof Warda einen Einblick in seine Auswahl und erläutert, warum er nicht nur Kunst aus Polen zeigt.

Diese Ausgabe bestellen

Artikel aus den letzten Ausgaben

Møbleringen af velfærdssamfundet

Er der en sammenhæng mellem den store udbredelse af dansk design og udviklingen af det danske velfærdssamfund?

Köpfe der Kunst

Seit mehr als 40 Jahren ist ihr Fotoatelier in Kiel die Adresse für Künstlerinnen und Künstler im Land. Für ein Ausstellungsprojekt hat Ute Boeters ihr Archiv gesichtet.

Das Naturgenussfestival startet. Hoffentlich.

Wie kündigt man eine Veranstaltungsreihe an, wenn auf einmal nichts mehr sicher ist? Jana Schmidt über das Erfolgsprojekt der Stiftung Naturschutz Schleswig-Holstein

Schleswig-Holstein Light – eins 2019

Liebe Leserin, lieber Leserin ihrem Portrait von Anders Petersen vergleicht Julia Lucas den Elmshorner Künstler mit der zweigesichtigen römischen...

Martin Lätzels Ana[B]log: Ein Gespenst geht um in Europa …

In Europa geht ein Gespenst um: Das Gespenst heißt Nationalismus. Es ist ein altes Gespenst, erscheint jetzt aber in...

Deutsch oder Dänisch? Die Volksabstimmung 1920 als Geburtsstunde der Minderheiten

In Kooperation mit dem Deutschen Museum Nordschleswig beleuchten wir 100 bewegte Jahre Geschichte der deutschen Minderheit in Dänemark durch den Blick auf 100 Exponate des Museums. Dieses Mal: Nr 1. Die Wahlurne der Gemeinden Uberg und Seth

Die Kulturzeitschrift abonnieren

Meistgelesen

Mahlzeit, Erstmal, Moin. Grüße in Nordfriesland und anderswo

Jeder kennt „Mahlzeit“ und „Moin“ als Gruß – zumindest in Norddeutschland; die Verabschiedung „Erstmal“ ist schon südlich von Eider und Nord-Ostsee-Kanal seltener. Wo kommen diese Grußformeln her und wie werden sie gebraucht?LANDRAT in...

Die Schule für Schauspiel in Kiel – private Berufsfachschule und kreativer Kulturort

Ob als freie Schauspieler, feste Ensemblemitglieder oder als Regisseure. Ihre Absolvent*innen bereichern die Theaterszene nicht nur in Kiel und im Land. Rolf Peter Carl stellt die einzige Schauspielschule in Schleswig-Holstein vor.

Die gängigsten Spechtarten in Schleswig-Holstein

Diese Spechtarten können Sie in den Wäldern Schleswig-Holsteins entdecken

Tanne – Abies

Welf-Gerrit Otto betrachtet die Tanne im Spiegel von Mythologie und Volksglaube - und zeigt, wie die Wildpflanze in der Küche verwendung finden kann ...

Heimat. Begriff und Gefühl – am Beispiel der Gebrüder Grimm

Der Begriff "Heimat", wie wir ihn heute benutzen, entwickelte sich erst in der Romantik, seit Ende des 18. Jahrhunderts.

Nachgelesen: Das bewegte Leben der Lotti Huber

Lotti Huber war eine Künstlerin. Sie war eine Lebenskünstlerin. In einschlägigen Artikeln wird sie als Schauspielerin, Sängerin, Tänzerin und avantgardistische Künstlerin bezeichnet. Übersetzerin und Schriftstellerin war sie auch. Martin Lätzel über das bewegte Leben der gebürtigen Kielerin.

(Un)bekannte Moderne: Die BEWOBAU-Siedlung von Richard Neutra in Quickborn

Die Architektur-wissenschaftler Barbara von Campe, Eva von Engelberg-Dockal und Johannes Warda sprechen über die BEWOBAU-Siedlung von Richard Neutra und die Moderne im Allgemeinen

Gut Panker: Vom Rittersitz zur Gutsgemeinschaft

Panker heute – das ist eine Gemeinde im Landkreis Plön, Amt Lütjenburg, 22.76 qkm, etwa 1500 Einwohner. Das gewöhnliche gelbe Ortsschild lässt von einem „Gut“ Panker nichts erkennen, aber der interessierte Tourist stößt...
Datenschutz
Wir, Wohnungswirtschaft-heute Verlagsgesellschaft mbH (Firmensitz: Deutschland), würden gerne mit externen Diensten personenbezogene Daten verarbeiten. Dies ist für die Nutzung der Website nicht notwendig, ermöglicht uns aber eine noch engere Interaktion mit Ihnen. Falls gewünscht, treffen Sie bitte eine Auswahl:
Datenschutz
Wir, Wohnungswirtschaft-heute Verlagsgesellschaft mbH (Firmensitz: Deutschland), würden gerne mit externen Diensten personenbezogene Daten verarbeiten. Dies ist für die Nutzung der Website nicht notwendig, ermöglicht uns aber eine noch engere Interaktion mit Ihnen. Falls gewünscht, treffen Sie bitte eine Auswahl: