Vor hundert Jahren wurde er geboren. Der Schöpfer von Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt war sein Leben lang in der Nähe des Wassers zu Hause. Und seine Geschichten und Gedichte, nahezu alle schmecken nach salziger Seeluft.
Eine persönliche Würdigung von Manfred Schlüter.
Ich stehe auf dem Markt in Brunsbüttel. Genauer gesagt in Brunsbüttel-Ort. Vor dem Haus Nummer 17. Hier hab ich zwei Jahre lang gelebt und gearbeitet. Als Grafik-Designer. Von 1976 bis 1978. Ich entwickelte Logos und Schriftzüge für Boutiquen und Fleischereifachgeschäfte, das Briefpapier eines Kurbades, Etiketten für Blechdosen, in denen Bratheringe eine vorübergehende Heimstatt finden sollten, und anderes mehr. Es war die Zeit, da südlich des Nord-Ostsee-Kanals Dörfer weichen mussten, damit die chemische Industrie sich ansiedeln konnte. Die Zeit, als im nahegelegenen Brokdorf Tausende gegen den Bau des Atomkraftwerks demonstrierten.
Im Erdgeschoss hauste Opa Scharp in seiner gut geheizten Stube. Oben froren wir. Im Winter zumindest. Wir schauten auf die Jakobuskirche in der Mitte des Marktgevierts. Hockten manchmal in Jürgensens Hotel. Dort zapfte Heinrich Ehlers das Bier. Und von 12:00 bis 14:00 Uhr gab’s Mittagstisch. Klaus-Henning Schade lebte am Markt, jener Weltreisende, der mit seinen Diavorträgen über Land zog. Es gab einen Kohlenhändler. „El Leiko“, den Bestatter. Pastorat und Post. Ein Stückchen weiter, in der Sackstraße, betrieben Anke und Hartmut Gerstenkorn das Kunsthaus, eine Galerie mit Tee- und Weinstube. Und noch ein Stückchen weiter wohnte der niederdeutsche Dichter Emil Hecker.
Ich folge der Sackstraße Richtung Zentrum. Süderstraße, Hafenstraße, Brunsbütteler Straße. Ich halte mich rechts und überquere bald ein schmales Flüsschen namens Braake. Schlendere weiter auf der Koogstraße. Von den Kanalschleusen ruft ein Containerschiff herüber. Schließlich sehe ich das Schild: Schulstraße. Dort hat er gelebt. Boy Lornsen. Mit Margot, seiner Frau. Und dort haben wir uns kennengelernt.
Das war 1978. Karin und ich hatten Brunsbüttel verlassen und lebten seit einigen Monaten im Norden Dithmarschens. In Hillgroven, einer Streusiedlung an der Nordseeküste. Ich war nach wie vor als Grafiker tätig. Mein Traum allerdings war es, Bilder für Bücher zu gestalten. Also hatte ich meine Schreibmaschine zum Glühen gebracht und über fünfzig Verlage angeschrieben, hatte Arbeitsproben beigefügt und auf eine Chance gehofft. Vergeblich.
Und dann kam dieser Tag, der mein Leben verändern sollte. Die „Gerstenkörner“ waren bei uns und meinten, wir sollten doch einfach mitkommen. Sie waren nämlich eingeladen. Bei Boy und Margot Lornsen. Die schauten sich dann und wann bei ihnen im Kunsthaus um. Lornsen? Natürlich kannte ich den Namen. Boy Lornsen! Ich hatte einige seiner Bücher gelesen. Begegnet waren wir uns jedoch nie. Obwohl sie nur gut zwei Kilometer voneinander entfernt waren, die Brunsbütteler Schulstraße und unser ehemaliges Zuhause am alten Markt.
Wir sollten also einfach mitkommen. Hm. Ganz wohl war uns nicht. Schließlich waren wir nicht eingeladen. Aber nun standen wir vor diesem Haus mit der auffällig violetten Fassade. Als Gastgeschenk hatten wir Pilze dabei, deren Namen und Giftigkeitsgrad uns unbekannt waren. Wir hatten sie am Hillgrovener Außendeich gepflückt. Tintlinge, sagte Boy, die seien in jungem Stadium noch genießbar. Unsere Tintlinge waren jung. Na also. Wenig später schmorten sie in der Pfanne, in den Gläsern funkelte der Wein, die Stunden flogen dahin, und wir redeten und redeten. Sprachen über Gott und die Welt. Über die große Welt da draußen und unsere kleine Welt vor der Haustür. Auch über meinen Traum.

Monate später rief Boy an und erzählte von seinem Störtebeker, von Magister Wigbold und dem Schiefhals. Boy sprach von seinem langjährigen Kampf mit dem Seeräuber … und fragte, ob ich Lust hätte, seine Geschichte zu illustrieren: Gottes Freund und aller Welt Feind. Natürlich hatte ich! Bald saßen wir zusammen, segelten mit den Vitalienbrüdern über die Baltische See nach Wisby und Stockholm oder über Kattegat und Skagerrak rauf nach Bergen. Boy erzählte und las vor. Mit dieser Stimme, die sich anhörte, wie wenn der starke Ast eines Baumes im Sturmwind knarrte.
Weiterlesen …?
Um den gesamten Artikel lesen zu können, buchen Sie bitte unser monatlich kündbares Online-Abo oder bestellen Sie die Print-Ausgabe.
Schon gewusst? Auch als Print-Abonnent*in der Kulturzeitschrift Schleswig-Holstein erhalten Sie Zugang zu allen Artikeln auf unserer Internetseite. Sie sind Abonnent*in und haben noch keinen Online-Zugang? Dann senden Sie uns eine Mail mit Ihrer Abo-Nummer an info@schleswig-holstein.sh und wir richten es Ihnen ein.
Manfred Schlüter
Die zitierten Texte sind folgenden Büchern von Boy Lornsen entnommen:
Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt, Thienemann, Stuttgart 1967, Illustrationen von F.J. Tripp
Gottes Freund und aller Welt Feind, Thienemann, Stuttgart 1980 *
Auf Kaperfahrt mit der Friedlichen Jenny, Thienemann, Stuttgart 1982 *
ABAKUS an mini-MAX, Thienemann, Stuttgart 1970, Illustrationen von Boy Lornsen
Williwitt und Fischermann, Arena, Würzburg 1983 *
Williwitt und der große Sturm, Arena, Würzburg 1983 *
Williwitt und Vogelmeier, Arena, Würzburg 1984 *
Die drei Bände sind enthalten im Sammelband
Wasser, Wind und Williwitt, Arena, Würzburg 1983 *
Nis Puk in der Luk, Oetinger, Hamburg 1985 *
Nis Puk – Mit der Schule stimmt was nicht, Oetinger, Hamburg 1988 *
Nis Puk und die Wintermacher, Oetinger, Hamburg 1993 *
Traugott und das Wildschwein, Arena, Würzburg 1985 *
Die Möwe und der Gartenzwerg, Thienemann, Stuttgart 1982 *
Das Wrack vor der Küste und andere Erzählungen (darin Der Nebelaal), Lühr & Dircks, Quickborn, Hamburg 1993
Seenotkreuzer Adolph Bermpohl (darin Seenot), Boyens, Heide 1987 *
Sien Schöpfung un wat achterno keem, Quickborn, Hamburg 1991
Das Zitat von Walter Jens ist seinem Nachwort in folgendem Werk entnommen:
Boy Lornsen: Geschichten aus Schleswig-Holstein,
herausgegeben von Frank Trende, Boyens, Heide 2007
*Illustrationen von Manfred Schlüter
Bedauerlicherweise sind zahlreiche Bücher vergriffen und nur noch antiquarisch zu bekommen.