Samstag, 11. Mai 2024

Boy Lornsen – der Schreiber von der Küste

KulturzeitschriftBoy Lornsen – der Schreiber von der Küste

Vor hundert Jahren wurde er geboren. Der Schöpfer von Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt war sein Leben lang in der Nähe des Wassers zu Hause. Und seine Geschichten und Gedichte, nahezu alle schmecken nach salziger Seeluft.
Eine persönliche Würdigung von Manfred Schlüter.

Ich stehe auf dem Markt in Brunsbüttel. Genauer gesagt in Brunsbüttel-Ort. Vor dem Haus Nummer 17. Hier hab ich zwei Jahre lang gelebt und gearbeitet. Als Grafik-Designer. Von 1976 bis 1978. Ich entwickelte Logos und Schriftzüge für Boutiquen und Fleischereifachgeschäfte, das Briefpapier eines Kurbades, Etiketten für Blechdosen, in denen Bratheringe eine vorübergehende Heimstatt finden sollten, und anderes mehr. Es war die Zeit, da südlich des Nord-Ostsee-Kanals Dörfer weichen mussten, damit die chemische Industrie sich ansiedeln konnte. Die Zeit, als im nahegelegenen Brokdorf Tausende gegen den Bau des Atomkraftwerks demonstrierten.
Im Erdgeschoss hauste Opa Scharp in seiner gut geheizten Stube. Oben froren wir. Im Winter zumindest. Wir schauten auf die Jakobuskirche in der Mitte des Marktgevierts. Hockten manchmal in Jürgensens Hotel. Dort zapfte Heinrich Ehlers das Bier. Und von 12:00 bis 14:00 Uhr gab’s Mittagstisch. Klaus-Henning Schade lebte am Markt, jener Weltreisende, der mit seinen Diavorträgen über Land zog. Es gab einen Kohlenhändler. „El Leiko“, den Bestatter. Pastorat und Post. Ein Stückchen weiter, in der Sackstraße, betrieben Anke und Hartmut Gerstenkorn das Kunsthaus, eine Galerie mit Tee- und Weinstube. Und noch ein Stückchen weiter wohnte der niederdeutsche Dichter Emil Hecker.
Ich folge der Sackstraße Richtung Zentrum. Süderstraße, Hafenstraße, Brunsbütteler Straße. Ich halte mich rechts und überquere bald ein schmales Flüsschen namens Braake. Schlendere weiter auf der Koogstraße. Von den Kanalschleusen ruft ein Containerschiff herüber. Schließlich sehe ich das Schild: Schulstraße. Dort hat er gelebt. Boy Lornsen. Mit Margot, seiner Frau. Und dort haben wir uns kennengelernt.
Das war 1978. Karin und ich hatten Brunsbüttel verlassen und lebten seit einigen Monaten im Norden Dithmarschens. In Hillgroven, einer Streusiedlung an der Nordseeküste. Ich war nach wie vor als Grafiker tätig. Mein Traum allerdings war es, Bilder für Bücher zu gestalten. Also hatte ich meine Schreibmaschine zum Glühen gebracht und über fünfzig Verlage angeschrieben, hatte Arbeitsproben beigefügt und auf eine Chance gehofft. Vergeblich.
Und dann kam dieser Tag, der mein Leben verändern sollte. Die „Gerstenkörner“ waren bei uns und meinten, wir sollten doch einfach mitkommen. Sie waren nämlich eingeladen. Bei Boy und Margot Lornsen. Die schauten sich dann und wann bei ihnen im Kunsthaus um. Lornsen? Natürlich kannte ich den Namen. Boy Lornsen! Ich hatte einige seiner Bücher gelesen. Begegnet waren wir uns jedoch nie. Obwohl sie nur gut zwei Kilometer voneinander entfernt waren, die Brunsbütteler Schulstraße und unser ehemaliges Zuhause am alten Markt.
Wir sollten also einfach mitkommen. Hm. Ganz wohl war uns nicht. Schließlich waren wir nicht eingeladen. Aber nun standen wir vor diesem Haus mit der auffällig violetten Fassade. Als Gastgeschenk hatten wir Pilze dabei, deren Namen und Giftigkeitsgrad uns unbekannt waren. Wir hatten sie am Hillgrovener Außendeich gepflückt. Tintlinge, sagte Boy, die seien in jungem Stadium noch genießbar. Unsere Tintlinge waren jung. Na also. Wenig später schmorten sie in der Pfanne, in den Gläsern funkelte der Wein, die Stunden flogen dahin, und wir redeten und redeten. Sprachen über Gott und die Welt. Über die große Welt da draußen und unsere kleine Welt vor der Haustür. Auch über meinen Traum.


Monate später rief Boy an und erzählte von seinem Störtebeker, von Magister Wigbold und dem Schiefhals. Boy sprach von seinem langjährigen Kampf mit dem Seeräuber … und fragte, ob ich Lust hätte, seine Geschichte zu illustrieren: Gottes Freund und aller Welt Feind. Natürlich hatte ich! Bald saßen wir zusammen, segelten mit den Vitalienbrüdern über die Baltische See nach Wisby und Stockholm oder über Kattegat und Skagerrak rauf nach Bergen. Boy erzählte und las vor. Mit dieser Stimme, die sich anhörte, wie wenn der starke Ast eines Baumes im Sturmwind knarrte.

Weiterlesen …?

Um den gesamten Artikel lesen zu können, buchen Sie bitte unser monatlich kündbares Online-Abo oder bestellen Sie die Print-Ausgabe.

Schon gewusst? Auch als Print-Abonnent*in der Kulturzeitschrift Schleswig-Holstein erhalten Sie Zugang zu allen Artikeln auf unserer Internetseite. Sie sind Abonnent*in und haben noch keinen Online-Zugang? Dann senden Sie uns eine Mail mit Ihrer Abo-Nummer an info@schleswig-holstein.sh und wir richten es Ihnen ein.

Manfred Schlüter

Die zitierten Texte sind folgenden Büchern von Boy Lornsen entnommen:

Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt, Thienemann, Stuttgart 1967, Illustrationen von F.J. Tripp
Gottes Freund und aller Welt Feind, Thienemann, Stuttgart 1980 *
Auf Kaperfahrt mit der Friedlichen Jenny, Thienemann, Stuttgart 1982 *
ABAKUS an mini-MAX, Thienemann, Stuttgart 1970, Illustrationen von Boy Lornsen

Williwitt und Fischermann, Arena, Würzburg 1983 *
Williwitt und der große Sturm, Arena, Würzburg 1983 *
Williwitt und Vogelmeier, Arena, Würzburg 1984 *

Die drei Bände sind enthalten im Sammelband
Wasser, Wind und Williwitt, Arena, Würzburg 1983 *

Nis Puk in der Luk, Oetinger, Hamburg 1985 *
Nis Puk – Mit der Schule stimmt was nicht, Oetinger, Hamburg 1988 *
Nis Puk und die Wintermacher, Oetinger, Hamburg 1993 *

Traugott und das Wildschwein, Arena, Würzburg 1985 *
Die Möwe und der Gartenzwerg, Thienemann, Stuttgart 1982 *
Das Wrack vor der Küste und andere Erzählungen (darin Der Nebelaal), Lühr & Dircks, Quickborn, Hamburg 1993
Seenotkreuzer Adolph Bermpohl (darin Seenot), Boyens, Heide 1987 *
Sien Schöpfung un wat achterno keem, Quickborn, Hamburg 1991

Das Zitat von Walter Jens ist seinem Nachwort in folgendem Werk entnommen:
Boy Lornsen: Geschichten aus Schleswig-Holstein,
herausgegeben von Frank Trende, Boyens, Heide 2007

*Illustrationen von Manfred Schlüter

Bedauerlicherweise sind zahlreiche Bücher vergriffen und nur noch antiquarisch zu bekommen.

Weitere Artikel

Jurek Becker zum 25. Todestag.

„Wenn ich auf die Schlei blicke, laufe ich Gefahr, daß ich anfange, idyllisch zu werden.“ schrieb Jurek Becker über seine Wahl-Heimat. Martin Lätzel erinnert an den 1997 verstorbenen Schriftsteller.

Der Erzväteraltar von St. Nikolai in Kiel

Das als Erzväteraltar bekannte Altarretabel von St. Nikolai war ursprünglich nicht für St. Nikolai, sondern für den Altar der etwa 200 Meter von dieser Hauptkirche Kiels entfernten, im Zweiten Weltkrieg zerstörten ehemaligen Klosterkirche des Bettelordens der Franziskaner hergestellt worden....

Globales Lernen im Museum: Neue Perspektiven auf „Altbekanntes“

Globales Lernen will Menschen ermutigen und befähigen, sich für Gerechtigkeit für alle Menschen auf dieser Welt einzusetzen. Das setzt Verständnis für zunehmend komplexe Themen voraus, da es sonst kaum möglich ist, sich eine eigene Meinung zu bilden. Museen bieten Möglichkeiten, Vielfalt erfahrbar zu machen. Allein aufgrund ihrer abwechslungsreichen Ausstellungsstücke, aber auch indem wir uns ihnen aus unterschiedlichen Perspektiven nähern. Und letztlich zur zentralen Frage gelangen: Was hat das mit mir zu tun?

Zehn Jahre: Das Kammermusikfest Sylt feiert Geburtstag

Auf der Nordseeinsel Sylt steht seit 2012 ein jährlich stattfindendes, sommerliches Kammermusik-Festival auf dem Programm: das Kammermusikfest Sylt. An den verschiedensten Orten auf der ganzen Insel wird seither an fünf Tagen im Juli Kammermusik auf höchstem musikalischem Niveau zum Klingen gebracht.

Diese Ausgabe bestellen

Artikel aus den letzten Ausgaben

Schilfrohr – biologische Einordnung – mythologische Bedeutung – kulinarische Verwendung

Dass man mit Schilf Dächer decken kann, ist bekannt. Doch auch kulinarisch hat die Sumpfpflanze was zu bieten ...

Spokenword & Poetry Slam in Schleswig-Holstein

In den letzten Jahren ist der moderne Dichterwettstreit Poetry Slam in Deutschland immer bekannter und populärer geworden. Mit ausschlaggebend dafür war und ist ohne Frage der unglaubliche Erfolg Julia Engelmanns. Und wer im Norden kennt nicht Mona Harrys „Liebeserklärung an den Norden“? Doch trotz der gewachsenen Popularität und dem immer größeren Medieninteresse sagt vielen der Begriff Poetry Slam wenig – und für manche ist es immer noch ein subkulturelles Phänomen. Dabei ist Poetry Slam viel mehr.

Nachwuchs fürs Stiftungsland: Junge Unken und Kröten ausgewildert

Füttern, vielleicht Gassi gehen, eine Portion Streicheleinheiten – wer ein Haustier hat, kennt die tägliche Arbeit. Um über 3.000...

Reisen in die Schatzkammern des kulturellen Gedächtnisses – Ein Bibliotheksreisender in Lübeck am Anfang des 18. Jahrhunderts.

Über Jahrhunderte, seit der Antike, bildeten Bibliotheksreisen eigene Formen des Reisens aus und prägten besondere Typen von Reisenden. Ordensgeistliche...

Wenn Quellen endlich zum Sprechen gebracht werden

Die Wissenschaft spricht nicht zu Unrecht von der „Silcence of the Archive“, dem Schweigen des Archivs also, wenn dessen reiche Bestände schlecht oder gar nicht erschlossen sind und deswegen in seinen Depots unbeachtet einen traurigen Dornröschenschlaf schlafen. Kaum aber sind die Quellen im Archiv gesichtet und erschlossen und bestenfalls sogar noch als Digitalisate frei zugänglich weltweit abruf- und benutzbar, dann beginnen sie geradezu zu erwachen und zu sprechen: Denn Wissenschaft und Interessierte arbeiten endlich mit ihnen! Sie wollen diesen zuhören und sie verstehen. Genau das passiert gerade mit den vielen verstaubten und vergilbten Notizen, Postkarten, Dokumenten und Papieren, die uns der alte Max Planck und seine zweite Ehefrau Marga hinterlassen haben.

SAG NEIN! Wolfgang Borchert

Wolfgang Borchert war der erste Mahner der Nachkriegszeit. Martin Lätzel erinnert an den Hamburger Schriftsteller.

Die Kulturzeitschrift abonnieren

Meistgelesen

Mahlzeit, Erstmal, Moin. Grüße in Nordfriesland und anderswo

Jeder kennt „Mahlzeit“ und „Moin“ als Gruß – zumindest in Norddeutschland; die Verabschiedung „Erstmal“ ist schon südlich von Eider und Nord-Ostsee-Kanal seltener. Wo kommen diese Grußformeln her und wie werden sie gebraucht? LANDRAT in...

Die Schule für Schauspiel in Kiel – private Berufsfachschule und kreativer Kulturort

Ob als freie Schauspieler, feste Ensemblemitglieder oder als Regisseure. Ihre Absolvent*innen bereichern die Theaterszene nicht nur in Kiel und im Land. Rolf Peter Carl stellt die einzige Schauspielschule in Schleswig-Holstein vor.

Die gängigsten Spechtarten in Schleswig-Holstein

Diese Spechtarten können Sie in den Wäldern Schleswig-Holsteins entdecken

Tanne – Abies

Welf-Gerrit Otto betrachtet die Tanne im Spiegel von Mythologie und Volksglaube - und zeigt, wie die Wildpflanze in der Küche verwendung finden kann ...

Gut Panker: Vom Rittersitz zur Gutsgemeinschaft

Panker heute – das ist eine Gemeinde im Landkreis Plön, Amt Lütjenburg, 22.76 qkm, etwa 1500 Einwohner. Das gewöhnliche gelbe Ortsschild lässt von einem „Gut“ Panker nichts erkennen, aber der interessierte Tourist stößt...

Heimat. Begriff und Gefühl – am Beispiel der Gebrüder Grimm

Der Begriff "Heimat", wie wir ihn heute benutzen, entwickelte sich erst in der Romantik, seit Ende des 18. Jahrhunderts.

Der Harmlos – James Krüss zum 95. Geburtstag

Die Nordsee zeigt sich von ihrer besten Seite, als der junge Mann den Dampfer besteigt, um auf die in der weiten See liegende Insel, um nach Hause zu fahren. Auf dem Schiff trifft...

Nachgelesen: Das bewegte Leben der Lotti Huber

Lotti Huber war eine Künstlerin. Sie war eine Lebenskünstlerin. In einschlägigen Artikeln wird sie als Schauspielerin, Sängerin, Tänzerin und avantgardistische Künstlerin bezeichnet. Übersetzerin und Schriftstellerin war sie auch. Martin Lätzel über das bewegte Leben der gebürtigen Kielerin.