Vor 150 Jahren, im November 1872, trifft das bislang schwerste Sturmhochwasser die südwestlichen Ostseeküsten zwischen Dänemark und Usedom. Eine Ausstellung im Museum für Regionalgeschichte im Ostseebad Scharbeutz zeigt, wo die meterhohen Wellen vor 150 Jahren besonders wüten, wie es zu der Katastrophe kommt und was wir aus ihr lernen können.
Das Wasser kommt in der Nacht vom 12. auf den 13. November und trifft die Menschen unvorbereitet. Zwar tobt seit Tagen ein heftiger Sturm, und man weiss, dass mit der überwiegend friedlichen Ostsee durchaus nicht immer zu spaßen ist. Dass aber das Meer Brecher über die Dünen jagt, die alles zerstören, was ihnen im Weg steht, das kennt man so nicht. In Todesangst klettern die Bewohner auf die Dächer ihrer einfachen Katen und Fachwerkhäuser. Einige haben Glück und treiben auf den Dachstühlen landeinwärts auf höheres Gelände. Andere können sich nicht halten und ertrinken oder werden von einstürzenden Mauern erschlagen.

Der Salzsee
Zu einer ökologischen Katastrophe wird die Sturmflut für den Hemmelsdorfer See, dessen schmaler Ausfluss Aalbeek damals wie heute in Niendorf in die Ostsee mündet. Das Meer erobert sich seine eiszeitliche langgestreckte Bucht, deren Ausgang verlandet ist, zurück – die Hemmelsförde mit einem hunderte Meter breiten Ausgang zur See entsteht über Nacht neu.
Etwa 6.500 Jahre zuvor bildet der „Brodtener Dorn“ eine sechs Kilometer lange Halbinsel zwischen der Hemmelsförde und der Traveförde. Seine Struktur ist heute noch unter Wasser nachweisbar, flache Stellen sind auf Seekarten vermerkt. Dieses Brodtener Steilufer, wie es heute heißt, ist ein geologisch labiles Kliff und bröckelt beständig, derzeit weicht es um etwa einen Meter pro Jahr zurück. Aus seinen Sedimenten haben sich im Lauf der Jahrtausende die Halbinsel Priwall in der heutigen Travemündung und die Nehrung, auf der Niendorf steht, gebildet.
Die Sturmflut 1872 überschwemmt diese Nehrung 3,30 Meter hoch mit Meerwasser. Fast alle Tiere und Pflanzen im Hemmelsdorfer See überstehen den Salzwasserschock nicht. Der Lübecker Lehrer Dr. R. Griesel nimmt von 1914 bis 1934 jährliche Messungen im bis zu 40 Meter tiefen Gewässer vor. Er weist eine dichte, wenngleich jährlich um 50 bis 60 Zentimeter abnehmende Salzwasserschicht nach. Erst Mitte der 1930er Jahre, gut 60 Jahre nach der Sturmflut, ist der Hemmelsdorfer See wieder salzfrei. Die Fischerei auf Süßwasserfische kann wieder aufgenommen werden.
Das Wasser stand bis zur Markierung in 3,30 Meter Höhe: Flutstele an der Aalbeek. Foto: Bernhard Buchen/Regionalmuseum Scharbeutz
Insgesamt fordert die Sturmflut vor 150 Jahren mindestens 271 Menschenleben. Hunderte Schiffe sinken, Tausende Häuser werden zerstört oder schwer beschädigt, mehr als 10.000 Haus- und Nutztiere ertrinken. Rund 15.000 Menschen werden obdachlos, Fischerboote zertrümmert, Ernten vernichtet, Brunnen, Äcker und Weiden versalzen. Im Zentrum der Katastrophe liegt die Lübecker Bucht. Sierksdorf, Haffkrug, die am Strand gelegenen Teile von Scharbeutz sowie Niendorf und Travemünde werden zum größten Teil überschwemmt (Timmendorfer Strand gibt es damals noch nicht). Neun Menschen kommen allein hier ums Leben, kaum ein Haus bleibt unbeschädigt. Der Flutscheitel beträgt hier mehr als drei Meter über Normalnull, der Wellenschlag erreicht 5,50 Meter, einzelne Brecher sind bis zu sieben Meter hoch.

Der Goldschatz
Tage nach dem Sturmhochwasser finden sich am Strand von Neuendorf auf der Insel Hiddensee zehn reich verzierte goldene Schmuckstücke, sechs weitere Teile werden zu Pfingsten 1873 und im Februar 1874 entdeckt: Der „Hiddenseer Goldschatz“, vom Meer angeschwemmt oder aus den Dünen herausgespült, gehört zu den bedeutendsten Zeugnissen der Goldschmiedekunst der Wikinger. Der 16-teilige Feingoldschmuck aus der Zeit um 950 mit einem Gesamtgewicht von 596 Gramm wurde wahrscheinlich in Jütland gefertigt. Er besteht aus einer runden Spange, einem aus drei Goldbändern geflochtenen Halsreif, sechs großen und vier kleinen Hängestücken sowie vier Zwischengliedern. Eine Nachbildung ist im Hiddenseer Heimatmuseum im Ort Kloster zu sehen, die Originale mit einem Versicherungswert von 70 Millionen Euro befinden sich im Kulturhistorischen Museum Stralsund.
Über 1.000 Jahre alt: Teile des Goldschatzes im Kulturhistorischen Museum in Stralsund. Foto: Klugschnacker/Wikimedia
Der Pastor Gustav Quade, der als Chronist penibel die Folgen des Hochwassers in einem noch 1872 erschienenen „Gedenkbuch“ zusammenträgt, berichtet aus Niendorf, das sich damals gerade vom Fischer- zum Badeort entwickelt: „Die der See zunächst gelegene Reihe von Häusern ist so gut wie gänzlich zerstört; von den davor befindlichen Pavillons ist keine Spur mehr übrig und ebensowenig von dem mit großen Kosten aus festen Quadern aufgeführten Uferdamm… Von einzelnen (Häusern) ragen noch Ruinen hervor über den Seesand, von welchem sie 6 Fuß hoch, wie Pompeji und Herculanum von der Lava, eingesargt sind… Überall totes Vieh, zerstörtes oder verdorbenes Mobiliar, tief im Sande begrabene Fischerboote.“
Weiterlesen …?
Um den gesamten Artikel lesen zu können, buchen Sie bitte unser monatlich kündbares Online-Abo oder bestellen Sie die Print-Ausgabe in unserem Kiosk.
Schon gewusst? Auch als Print-Abonnent*in der Kulturzeitschrift Schleswig-Holstein erhalten Sie Zugang zu allen Artikeln auf unserer Internetseite. Sie sind Abonnent*in und haben noch keinen Online-Zugang? Dann senden Sie uns eine Mail mit Ihrer Abo-Nummer an info@schleswig-holstein.sh und wir richten es Ihnen ein.
Claudia Hönck und Sven-Michael Veit
Ausstellungsverantwortliche im Museum Scharbeutz