Die Medizin- und Pharmaziehistorische Sammlung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel beherbergt einen Vitrinenschrank mit 31 weiblichen Beckenknochen. Jeder dieser Knochen trägt eine Nummer. Die Becken wurden zwischen 1840 und 1888 Frauen entnommen, die in der Kieler Gebäranstalt verstarben. Wer waren diese Frauen? Die Suche nach ihrer Identität legt die sozialen, gesellschaftlichen und gesetzlichen Bedingungen offen, in denen sich ledige Schwangere im 19. Jahrhundert bewegen mussten. Gleichzeitig führt sie uns an den Anfang des weiten Weges zu heutigen gynäkologischen Standards.
Schwangerschaft hat eine Geschichte. Diese zunächst trivial wirkende Feststellung kann als Zugangspunkt zu dem überraschend facettenreichen historischen wie medizinischen Kosmos dienen, den das hier vorzustellende Buch kartiert. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Schleswig-Holsteinische Frauen, die im 19. Jahrhundert schwanger wurden und deren Leben in der akademischen Gebäranstalt in Kiel während oder bald nach der Entbindung endeten. Es handelt sich fast durchweg um Frauen aus den ländlichen Unterschichten. Sie fristeten ihr Dasein als ‚Dienstmädchen‘ in der Landwirtschaft, in Handwerksbetrieben und in den Häusern des Stadtbürgertums. Fast alle waren sie unverheiratet und unvermögend und hatten in der Regel keine Familienangehörigen, die sie in Notlagen unterstützen konnten. Als sie schwanger wurden, waren sie auf die Hilfe der öffentlichen Hand angewiesen – in einer Zeit, in denen unprivilegierten ledigen Schwangeren aus ihrem Umfeld oftmals hochgradige Verachtung entgegenschlug und sie rechtlich und politisch diskriminiert wurden.
Und noch etwas verbindet die Protagonistinnen unserer Geschichte: Nach ihrem Tod obduzierten die Mediziner in der Gebäranstalt ihre Körper, entnahmen ihnen die Beckenknochen und fertigten daraus anatomische Präparate an, die sich bis heute in der Medizin- und Pharmaziehistorischen Sammlung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel erhalten haben. In der sogenannten Kieler Beckensammlung bündeln sich soziale und mentale, rechtliche und medizinische Gesichtspunkte der Geschichte von Schwangerschaft und Geburt. Indem unser Buch diese unterschiedlichen Perspektiven auf die Beckensammlung nachvollzieht und zueinander in Beziehung setzt, kündet es von den Lebenswelten und Lebensläufen marginalisierter Frauen im 19. Jahrhundert und erzählt zugleich von der langwierigen und turbulenten Verwissenschaftlichung der Geburtshilfe.
Arm, ledig, schwanger. Die Kieler Gebäranstalt des 19. Jahrhunderts als Spiegel medizinischer und sozialer Herausforderungen
1. Auflage, 461 Seiten, Hardcover, Fadenheftung, Lesebändchen. Format: 160 x 225 mm. Mit zahlreichen Illustrationen und weiteren Abbildungen, teils farbig. 3 Klappseiten. ISBN: 978-3-947064-19-9