In Sichtweite der Schlei liegt die alte Kirche von Sieseby. Im Ursprung ein Feldsteinbau aus dem 13. Jahrhundert, heute geweißelt, mit dem für die Gegend charakteristisch geduckten Kirchturm samt Giebeldach. Ganz in der Nähe liegt das Haus Pastoratsweg 4. Hier lebte der Schriftsteller Jurek Becker nach einem Umzug von Kappeln bis zu seinem allzu frühen Tod 1997. „Sicher“, so schrieb er über die Gegend an seinen langjährigen Freund, den Schauspieler Manfred Krug, „sieht es in Kalifornien anders aus, aber auch unsere kleine norddeutsche Welt hat ihre Vorzüge. Wir liegen nicht unter Palmen, sondern unter umweltfreundlichen Windrädern.“
Nach der durch das DDR-Regime erzwungenen Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 protestierten zahlreiche Intellektuelle sowie Künstlerinnen und Künstler. Einer von ihnen war Jurek Becker. Der hieß ursprünglich eigentlich Jerzy Bekker und wurde 1937 im polnischen Łódź geboren. Doch die jüdische Familie Bekker geriet in die Fänge der deutschen Vernichtungsmaschine in den Bloodlands Osteuropas. 1940 kamen sie ins Ghetto, danach in verschiedene Konzentrationslager. Die Mutter Anette überlebte diesen Horror nicht. Jerzy, der bei ihr im Konzentrationslager Sachsenhausen war, kam erst nach dem Krieg mit seinem Vater, der unterdessen in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert worden war, zusammen. Sie waren sich zunächst fremd, so ausgemergelt, so krank waren beide zugerichtet.
Die Familie zog nach Ost-Berlin. Es geht die Geschichte, Beckers Vater habe als Geburtsort Fürth angegeben, da das dortige Rathaus zerstört gewesen sei und mit ihm alle Personenstandsurkunden. „Ich denke mir“, vermutet Jurek Becker später, „dass er im Krieg insofern die Heimat verloren hatte, als Heimat in erster Linie aus ja aus Menschen besteht und nicht aus Landschaft; aus Verwandten, Freunden, Vertrauten. Die waren nicht mehr da, die waren tot, im glücklichsten Fall spurlos verschwunden. So hat mein Vater nach dem Grundsatz gehandelt, dass einer, der sich nirgendwo hingezogen fühlt, am bequemsten gerade da bleiben kann, wo er gerade ist.“ Mit dem Vater sprach Jurek zunächst weiter polnisch, erst spät lernte er die deutsche Sprache. Das aber umso fulminanter und mächtiger, wie man schnell feststellt, wenn man seine Texte liest. Er studiert nach der Schule in Berlin Philosophie, kommt aber bald in einen politischen Konflikt mit der Universität. Becker schwenkt um, schreibt für das Kabarett, beginnt, Drehbücher zu verfassen und reicht einen Text ein, der von der Idee und von seinem Aufbau – heute würde man sagen: vom Plot – Jurek Beckers bleibenden Ruhm begründet. Ist Jakob der Lügner, weil er im Ghetto berichtet, er habe das Radio abgehört und die Rote Armee werde bald einmarschieren, um dem nationalsozialistischen Elend ein Ende zu bereiten und die Juden zu befreien? Wie viel eigenes Empfinden, wieviel Erzählungen aus seiner näheren Umgebung, wieviel von der Person seines Vaters stecken in diesem eindrücklichen Text, der niemanden kalt lassen kann? Doch das Drehbuch wird abgelehnt und kurzerhand macht Becker einen Roman daraus. Der wird dann letztlich doch verfilmt. Das Buch bringt Becker ersten Ruhm und den Heinrich-Mann-Preis ein, der Film den Silbernen Bären.
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Martin Lätzel