Freitag, 19. April 2024

Editorial

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Chefredakteur Kristof Warda (Foto: Marie Jobst Photography)

Liebe Leserin, lieber Leser,

„einzugestehen, dass unser mitteleuropäischer Wohlstand, der überhaupt erst solch eine luxuriöse Selbstbefragung des Menschen wie das Musiktheater ermöglicht hat, auf der Ausbeutung der anderen Teile der Welt beruht, erfordert immer noch bei großen Teilen der europäischen Bevölkerung Überwindung und Mut“, schreibt der leitende Dramaturg der Oper Kiel Ulrich Frey auf Seite 40. Einzugestehen, dass diese und andere „luxuriöse Selbstbefragungen“ unserer Kulturgeschichte – wie am Opernkanon abzulesen – ausschließlich die Perspektive „alter weißer Männer“ abbildet, bedarf einer weiteren Selbstbefragung – und zwar einer kritischen, angefangen innerhalb der Kulturinstitutionen und fortgesetzt in der Gesellschaft. An einem Thementag mit dem Titel Alte weiße Stücke hat sich die Oper Kiel der aktuellen Debatte um Identitätsfragen auf dem Spielplan gestellt. Die gehaltenen Vorträge finden Sie verschriftlicht in diesem Heft ab Seite 38. Ulrich Frey blickt dabei auf den Umgang mit „divers gelesenen“ Figuren in den Inszenierungen am eigenen Haus. Musik- und Theaterwissenschaftler*in Daniele G. Daude legt offen, wie „Rasse“ auf der Opernbühne konstruiert wird (S. 54). Mirrianne Mahn, Referentin für Diversitätsentwicklung der Stadt Frankfurt am Main, stellt klar, dass Diversität nicht erreicht werden kann, ohne den Blick auf Diskriminierung zu richten (S.62). Und der Lüneburger Oboist und Aktivist Tsepo Bollwinkel appelliert schließlich an uns, das Publikum, die eigene Perspektive zu hinterfragen und den Narrativen der rassistischen Erzählung nicht mehr zu folgen (S. 70).

Der auf Ausbeutung anderer Kontinente basierende Wohlstand (der keinesfalls alle Europäer*innen erreichte) ermöglichte nicht nur das Musiktheater, sondern bildet die Grundlage für große Teile unseres kulturellen Selbstverständnisses und unseres kulturellen Kanons. So ist zum Beispiel die Geschichte von Julia Gräfin von Reventlow, Förderin der Künste und Mittelpunkt des Emkendorfer Kreises, untrennbar verbunden mit der Geschichte ihres Vaters Heinrich Carl Schimmelmann, der durch Sklavenhandel zu einem der reichsten Menschen Europas wurde, deshalb seine Töchter in den Adel verheiraten konnte und schließlich selbst in den Adelsstand erhoben wurde. Zusammenhänge wie diese möchte der pädagogische Ansatz des Globales Lernens sichtbar machen und Menschen so ermutigen und befähigen, sich für Gerechtigkeit für alle Menschen auf der Welt einzusetzen. Museen mit ihrem reichhaltigen Fundus an Kultur und Geschichten sind ein idealer Lernort dafür. In der Stiftung Landesmuseen Schloss Gottorf erprobt Nicole Gifhorn diesen Ansatz und blickt aus neuen Perspektiven auf „Altbekanntes“. Janin Thies hat sie begleitet (S. 148).

Im offiziellen Gedenken an die rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992 finden sich die Betroffenen in der Statistenrolle wieder und schufen mit der Möllner Rede im Exil ihre eigene Gedenkveranstaltung. Anlässlich des bevorstehenden 30. Jahrestages hat sich eine Gruppe Künstler*innen aus dem Raum Stormarn vorgenommen, die Perspektive zu wechseln. Sie arbeiteten intensiv mit Ibrahim Arslan zusammen, der sich als Überlebender der Anschläge seit Jahren bundesweit dafür einsetzt, dass die Perspektive von Betroffenen rassistischer Gewalt ihren Platz in der deutschen Gedenkkultur findet. Die anschließend entstandenen Arbeiten wurden im Frühjahr unter dem Titel Perspektivwechsel im Schloss Reinbek gezeigt. Dessen Leiterin Elke Güldenstein schildert das Projekt und gibt Einblick in die entstandenen Kunstwerke ab S. 124. In Reinbek ist die Ausstellung inzwischen abgebaut, das Gedenkjahr läuft hingegen weiter: Jahrestag des Brandanschlages ist der 23. November. „Gesellschaftlich ist der Weg hin zu einem angemessenen, gemeinsamen Gedenken noch lang“, schreibt Elke Güldenstein am Ende ihres Artikels. Und: „Es ist wünschenswert, dass die Ausstellung den Menschen auch an weiteren Orten im Land Mut machen kann, ihn zu gehen.“ Wie wäre es zum Beispiel im Schleswig-Holsteinischen Landtag?

Außerdem in dieser Ausgabe: Claudia Hönck und Sven-Michael Veit erinnern an das verheerende Sturmhochwasser an der Ostseeküste vor 150 Jahren und erklären, was wir heute daraus lernen können (S. 6), der Illustrator Manfred Schlüter widmet dem Autoren Boy Lornsen eine ganz persönliche Würdigung (S. 80), Kurator Jan Wiktor Sienkiewicz erzählt im Gespräch, warum er im Polnischen Pavillon auf der NordArt 2022 nicht nur Kunst aus Polen zeigt und Uwe Haupenthal gratuliert der Künstlerin Hanne Nagel-Axelsen zum Geburtstag (S.22).
Das alles und noch viel mehr in Ihrer neuen Schleswig-Holstein.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen und Entdecken,

Ihr Kristof Warda

k.warda@schleswig-holstein.sh

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